Als könnt' ich fliegen
bis er etwas pendelte: ihr altes Ritual. Danach begrüßte sie Phil, den Besitzer des Shark , mit Küsschen: Teil zwei des Rituals. In meinen Augen genauso bescheuert wie der erste. Möglicherweise sogar noch bescheuerter. Erst als sie damit fertig war, schaute sie sich um. Sie schien zu suchen. Mein Herz hämmerte. Björn neben mir redete noch immer, ich hörte ihm weniger zu als je zuvor.
Zweimal glitten Nadines Blicke über mich hinweg, ohne an mir hängen zu bleiben, obwohl ich sie unablässig anstarrte. Das ging tief.
Björn unterbrach sich selbst mitten im Satz. »Da ist sie ja«, sagte er. »Worauf wartest du? Ich dachte, sie ist so scharf auf dich.«
»Halt die Klappe!«, zischte ich und nuckelte an meiner Cola. Ich versuchte, halbwegs so zu tun, als sei alles in Ordnung.
»Was ist?«, bohrte Björn. »Nix mehr mit großer Liebe?«
Ich ignorierte ihn. Darüber hinaus hatte ich keine Ahnung, was ich tun sollte. Nachdem Nadine mich glatt übersehen hatte, konnte ich jetzt nicht einfach zu ihr gehen und so tun, als fände ich das okay. Da hätte ich mich auch gleich vor ihr im Staub wälzen können.
Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Für eine tausendstel Sekunde glaubte ich, es wäre das Mädchen aus der Drogerie. Die mit den Wahnsinnsaugen und dem Gehfehler. Ich hatte zwischendurch immer mal wieder an sie gedacht.
In Wahrheit war es Nadine. Sie machte mich zu Teil drei ihres Rituals, indem sie mir ein Küsschen auf die Wange hauchte.
»Ich hab dich erst gar nicht gesehen!«, schrie sie gegen die Musik an. Sie setzte sich und zog an ihrer Zigarette. »Ich hab grad vorhin eine Kontaktlinse verloren. Jetzt hab ich gar keine drin.« Ich spürte ihren Atem am Ohr, ein irres Gefühl.
»Warum setzt du keine Brille auf?«, fragte ich naiv.
»Steht mir nicht. Und gerade heute wollte ich gut aussehen.« Sie schaute mich an. Dann küsste sie mich, was mich überraschend kalt ließ. Als wir eine Pause einlegten, sah ich, dass Björn verschwunden war.
»Ich dachte schon«, sagte ich, »du wolltest nichts mehr von mir wissen.« Ich war mir noch immer nicht sicher, ob mir das wirklich leidgetan hätte.
»Dummkopf«, sagte sie. »Wie kommst du denn auf so was?« Sie klang etwas unkonzentriert. Dann stand sie auf. Es sah mehr nach Aufbruch aus als nach Klogang oder Cola holen.
»Ich muss leider los«, erklärte sie dann auch. »Hab noch eine Verabredung. Aber morgen Früh fahren meine Alten weg.«
Wieder spaltete ich mich in zwei Hälften: Die eine war enttäuscht, die andere erleichtert. Einig waren sich beide Hälften jedoch darin, dass sie nicht wussten, was Nadines letzter Satz bedeuten sollte.
»Sie kommen vor Sonntagabend nicht zurück.« Sie blinzelte mich verschwörerisch an. »Komm doch mal vorbei. Ich muss jetzt wirklich. Ciao!«
»Ciao …«
Weg war sie. Ich saß da und sagte nichts mehr. Die Kondome in meiner Tasche atmeten erleichtert auf.
Dann war Björn zurück. »Die hat’s aber eilig!«, rief er mir zu und setzte sich neben mich.
»Irgendwie«, sagte ich nachdenklich, »passen wir nicht zusammen.«
»Warum sagst du so was?«, fragte Björn. »Wo ich dich so doll lieb hab.«
»Ich hab’s nicht so gemeint«, stieg ich auf seine Blödelei ein. »Bitte wein jetzt nicht.«
»Okay.« Er grinste. »Wenn du zur Entschädigung eine Runde am Kicker ausgibst: Schwamm drüber.«
Als der Ball rollte, sah ich noch einmal Nadine, die soeben, eingehakt bei Phil, das Shark verließ. Wie vorhin, als sie mich übersehen hatte, spürte ich einen Stich in der Magengegend. Aber auch dieses Mal erholte ich mich relativ schnell.
In der Nacht erwachte ich schweißgebadet. Ich hatte von Nadine geträumt. Zuerst wollte ich mit ihr schlafen. Aber als sie nichts mehr anhatte, sah ich, dass sie am ganzen Körper verkrüppelt war. Danach war ich viel zu erschrocken, um noch mit ihr schlafen zu können. Sie aber war wild entschlossen und bereit, mich zu zwingen. Das funktionierte nicht, weil ich tatsächlich nicht konnte. Da schaute sie mir tief in die Augen, und ich sah, dass es gar nicht Nadine war, sondern das Mädchen aus der Drogerie. Sie lächelte und plötzlich konnte ich doch. Sie aber sagte, das sei unmöglich, und verschwand. Sie löste sich in meinen Armen einfach in Luft auf.
Als ich in meinem Zimmer wach lag, hörte ich den Regen auf das Dachfenster tropfen. Manchmal beruhigte mich das, aber dieses Mal nicht. Ich stand auf und ging die Treppe hinunter in die Küche. Als ich das
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