Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
einer der besten Freundinnen meiner Mutter weiß ich, dass sie die Besuche schon recht früh eingestellt hat, weil sie sie »so in Erinnerung behalten möchte, wie sie war«. Ich kann das nachvollziehen, und ich kann von niemandem erwarten, dass er sich mit dem schwierigen Schicksal meiner Mutter auseinandersetzt. Dennoch macht es mich traurig. Und es enttäuscht mich auch.
Überhaupt habe ich das bei meiner Mutter, aber auch bei meinem Vater nie wirklich verstanden: Diese »Freundschaften«, die vielleicht doch eher gute »Bekanntschaften« sind, Menschen, die sich jahrzehntelang »kennen«, die viel Zeit und auch Urlaube miteinander verbracht haben, dann aber große Schwierigkeiten damit haben, einander ihre tiefen Sorgen, ihr Leid, ihre Hilflosigkeit zumindest mitzuteilen. Ich weiß nicht, woran das liegt, denke nur, es könnte mit den Kriegs- und Nachkriegserfahrungen dieser Generation zusammenhängen, den diversen Traumatisierungen und der Überlebensmaxime, nach vorn, aber nicht zurück und nicht zu tief in sich hineinzuschauen.
Ich will und kann das nicht verurteilen, und ich war immer wieder beeindruckt von der gegenseitigen, durchaus auch selbstlosen Unterstützung, wenn es etwa um ein praktisches Problem wie Renovierungsarbeiten ging. Nach Hilfe dieser Art bräuchte ich in meinem Freundeskreis erst gar nicht zu fragen. Und doch deprimiert es mich, dass meine Eltern, von ihren jeweiligen Lebensgefährten abgesehen, nicht in der Lage waren, bei Schicksalsschlägen emotionalen Beistand zu finden. Ich glaube allerdings auch, dass sie gar nicht wirklich danach gesucht haben. Ich hoffe, dass ich das später, sollte ich in so eine Situation kommen, besser hinkriege.
Auf der vorgedruckten Grußkarte lese ich: »Ein Lächeln – es dauert nur einen Augenblick, um es jemandem zu schenken. Aber die Erinnerung hält ewig …«. Mit »der Ewigkeit« sollte man vorsichtig sein. Obwohl, wenn es sich im Leibgedächtnis festsetzt, klappt es vielleicht. Kein Lächeln, das wahrgenommen worden ist, wird umsonst wahrgenommen worden sein.
Meine Mutter wacht auf. Ich gehe zum Bett, beuge mich über sie, lächle sie an und stelle meine fast schon obsessive Frage:
– Wer bin ich?
– Joachim.
Mein Onkel, ihr jüngerer Bruder, dem ich als Kind sehr ähnlich sah und der sich vor bald zwanzig Jahren das Leben nahm.
– Und wer bist du?
Frage ich.
– Jörn.
Ups.
– Wer bist du?
– Jörn.
– Und wie ist das so, Jörn zu sein?
– Schön.
– Das freut mich.
Tut es wirklich. Sie könnte ja auch jemand ganz anderes sein und sich dabei blöd fühlen, wenn sie schon nicht sie selbst ist.
– Aber es ist auch ein bisschen einseitig.
Fügt sie noch hinzu.
– Hmh.
Sehe ich eigentlich anders.
– Möchtest du spazieren gehen?
– Gern.
Und so ziehe ich los mit meiner Mutter, die heute Jörn ist. Später sitzen wir im Park auf einer Bank und genießen die Sonne.
– Wen möchtest du gern mal wiedersehen?
– Jan ist mein Sohn, den möchte ich gern mal wiedersehen.
– Und Jörn?
– Wir haben keinen Sören.
– Ich meine ja auch Jörn!
– Weiß ich nicht.
Das ist vielleicht so was wie der Fluch des Zweitgeborenen und Erstvergessenen. Und es ist eine schöne Lektion, sich nicht zu wichtig zu nehmen. Vielleicht ist es auch die Rache für meine permanente Fragerei. Auf jeden Fall ist es die Demenz meiner Mutter.
Über Ökonomie und die »Würde im Dunkeln«
Der Jurist Bernd von Maydell
– Man überlegt schon, wie man gepflegt werden will, und denkt dann zuerst an die Angehörigen. Aber kann man denen das wirklich zumuten?
Ich sitze im Wintergarten von Bernd von Maydell in Sankt Augustin bei Bonn. Von Maydell ist achtundsiebzig Jahre alt und erfreut sich dem äußeren Anschein nach bester Gesundheit.
– Ich habe das noch nicht entschieden, aber ich neige zu einer außerfamiliären Pflege. Ich will niemanden belasten.
Ein Suizid, sagt er, komme für ihn nicht infrage. Religiöse Überzeugungen spielen dabei, wie sonst wohl auch in seinem Leben, keine allzu große Rolle. Außerdem, sagt er mit einem kleinen Lächeln, wisse er nicht, was er durch einen Suizid vielleicht verpassen würde.
– Am Ende des Krieges war ich erst elf Jahre alt. Aber das hat mich geprägt, diese fürchterlichen Tötungen »unwerten Lebens«. Der Staat soll niemanden als unwert ansehen. Und ich selber will das, auf mich bezogen, auch nicht tun.
Das feine Lächeln ist geblieben. Seine bewusste und offene
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