Als Mrs Simpson den König stahl
meinem hochnäsigen Neffen oder seiner idiotischen Schwester? Für einige Dinge muss man dankbar sein, vermute ich. Geben Sie mir Dorothea.« Lady Myrtle zeigte auf den Vogelkäfig im Fond. »Will nicht, dass sie an den Stäben kaut«, fügte sie hinzu und schritt durch die Haustür.
Der Kanarienvogel wurde von einer Seite des Käfigs auf die andere geschleudert, und May fürchtete um sein Wohlergehen in dem schwankenden Beförderungsmittel. In der Eingangshalle verschwand Evangeline für einen Moment, nur um gleich darauf mit einem Servierwagen wieder aufzutauchen, den sie keuchend über die unebenen Steinplatten schob. Wenn Mrs Cage im Haus war, wurde der Servierwagen nur hinter der stoffbezogenen Tür in den Dienstbotengängen im Küchentrakt benutzt. In Abwesenheit der Haushälterin hatte Evangeline ihn nun allerdings auf dem oberen Bord mit Tassen und Untertassen und auf dem unteren mit einem großen Kuchen bestückt und hochgebracht.
»Du meine Güte«, rief die Besucherin. »Ein Servierwagen? Was denn noch alles? Wohl die Erlaubnis, Kuchenstückchen in den Tee einzutunken?«
Mit dem Schokoladenkuchen, den die Köchin vor ihre Abreise noch gebacken hatte, zeigte sie sich jedoch zufrieden und aß zwei Stück, bevor sie verlangte, den Weg zum Garten gezeigt zu bekommen.
»Möchten Sie, dass May Sie zum Krankenhaus fährt?«, fragte Evangeline. »Es ist nur eine Meile entfernt.«
»Nein, danke. Diese Verpflichtung kann ein Weilchen warten«, erwiderte Lady Myrtle. »Es ist ja nicht so, als ob meine Schwester irgendwohin fährt, oder? Nein, ich gehe in den Garten. Es ist nicht gut, den ganzen Tag in einem muffigen Haus herumzusitzen. Ich sehe Sie später.«
Lady Myrtle ging auf die Terrasse. Evangeline und May starrten ihr nach. Sie schien sich im Garten auszukennen, als hätte sie seinen Plan studiert. Sie duckte sich unter den rosenbehangenen Bogen hindurch, wandte sich an dem rot gefliesten Taubenschlag nach links, schritt in Richtung Teich und verschwand aus dem Blickfeld. Im Haus fing Dorothea in ihrem stickigen Käfig zu jammern an. May hatte große Lust, die Käfigtür zu öffnen und das Tier zu befreien. Sie konnte sich nicht vorstellen, weshalb Lady Myrtle einen solchen Vogel hielt, es sei denn, um sich an seiner schönen Singstimme zu erfreuen, aber sie bezweifelte, dass Dorothea in letzter Zeit aus freien Stücken gesungen hatte.
Später am Abend warteten Evangeline und May mit wenig Begeisterung darauf, dass Lady Myrtle wieder im Haus erschien. May war dankbar, dass sie Rachel oft dabei zugesehen hatte, wie sie fürs Schabbatmahl eine dicke Tomatensuppe und Brathähnchen zubereitet hatte. Beide Gerichte kamen an diesem Abend zum Einsatz und wurden auf dem Küchenherd warm gehalten. Evangeline hatte sich einen starken und sehr trockenen Cocktail gemixt, so wie Wallis es öfter tat. Den inneren Rand des Glases hatte sie mit Wermut eingerieben, bevor sie eiskalten Gin hinzugab und das Glas mit einer Zitronenscheibe und einer Olive garnierte. Eine halbe Stunde später hatte Evangeline bereits den
zweiten Cocktail zur Hälfte ausgetrunken, und noch immer keine Spur von Lady Myrtle. Ein Blick in das für zwei Personen gedeckte Esszimmer, gefolgt von einem in Lady Myrtles Schlafzimmer, ergab zweifelsfrei, dass sie sich nicht im Haus aufhielt. May lief bis ans Ende des Gartens, um nach einem Lebenszeichen zu suchen, kehrte jedoch auch von dort ohne Lady Myrtle zurück. Als May durch die mit Steinplatten belegte Eingangshalle kam, sah sie auf dem Tisch einen mit grüner Tinte beschriebenen Umschlag. Die Botschaft war kurz.
»Bin heute Abend anderweitig beschäftigt. Sehe Sie morgen früh.«
Evangeline und May waren verdutzt, aber nicht besorgt, Lady Myrtle schien eine Frau zu sein, die selbst auf sich aufpassen konnte. Evangeline begab sich nach oben in ihr Schlafzimmer, während May sich auf den Weg zu Mrs Cages Haus machte. Sie lief den kleinen Pfad entlang und kam an dem Cottage vorbei, in dem Vera Borchby wohnte. Auf der Veranda standen Veras schmutzige Schnürstiefel für die Gartenarbeit. Es brannte noch Licht; durch das offene Schlafzimmerfenster wehten Musikklänge und das Gemurmel zweier sehr tiefer Stimmen, offenbar Männerstimmen. May eilte nach Hause und ging sofort ins Bett.
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Wallis' Begeisterung über die bevorstehende Kreuzfahrt auf der Nahlin wirkte ansteckend, und Evangeline fühlte sich ausnahmsweise einmal nicht so ausgeschlossen wie sonst.
»Natürlich mussten wir alle Bücher
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