Als Mrs Simpson den König stahl
endlich einmal von all den lästigen Gummibändern und Schleifen befreit war, um ihr einen Abschiedskuss zu geben. »Viel Spaß beim Baden, ja?«
Florence blickte zu Boden und weigerte sich, May anzusehen. Durch die Schlaufen ihrer Shorts war ein Gürtel mit einer ungewöhnlichen, aber sonderbar vertrauten Schnalle gezogen: ein Kreis samt einer darin eingravierten gezackten Linie, die wie ein Blitzstrahl aussah.
»Was für ein hübscher Gürtel!«, sagte May. »Ist der speziell für die Ferien?«
Aber Florence sagte nichts, sondern zog ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter und stieg mit der Andeutung eines Winkens zu ihrer Mutter ins Auto.
May ging auf ihr Zimmer, um ihre Chauffeurslivree anzuziehen. Auf ihrem Kopfkissen lag ein Umschlag, der ein Foto und eine kurze Notiz enthielt: »Da muss ich hin, schon wieder .«
May sah sich das Foto an. Florence, noch etwas jünger, an einem Kieselstrand, umgeben von einer Gruppe in Schwarz gekleideter lächelnder Frauen. Sie trug ihre Shorts, und wieder war durch die Schlaufen des Hosenbunds jener ungewöhnliche Gürtel geschlungen. May drehte das Foto um. Auf der Rückseite stand mit Bleistift geschrieben: »Pagham, 1935«. Sie betrachtete das Bild abermals, diesmal gründlicher. Plötzlich erkannte sie das Symbol auf Florences Gürtelschnalle. Sie hatte es auf den Gürteln der Schwarzhemden bei Mosleys Versammlung in Oxford gesehen. May steckte das Bild in ihre Hosentasche und ging zur Garage, um den Wagen herauszufahren. Einen Moment lang erwog sie, das Foto Mr Hooch zu zeigen, sobald er wieder zurück war. Aber dann fiel ihr seine erboste Reaktion auf Sir Oswalds Besuch ein, und sie entschied sich dagegen.
May und Evangeline trafen gerade noch rechtzeitig am Bahnsteig in Polegate ein, um den Zug von London einfahren zu sehen. Evangeline hatte ihr vorgeschlagen, Lady Myrtle die ge
samte Zeit ihres Besuchs über gemeinsam entgegenzutreten. May war das nicht so recht. Es wäre angemessener, wenn sie selbst in ihrer Eigenschaft als Chauffeurin Lady Myrtle abgeholt hätte und Miss Nettlefold zurückgeblieben wäre, um als amtierende Hausherrin den Gast am Eingang zu begrüßen. Miss Nettlefold hatte jedoch darauf bestanden, zum Bahnhof mitzukommen.
»Das ist etwas, was Freundinnen gemeinsam tun«, hatte sie bestimmt.
Die hochgewachsene Frau, die mit ihren langen Schritten unverkennbar an Lady Joan erinnerte, war eindeutig eine Bradley. Doch so ähnlich sich die Schwestern in ihrer Körperhaltung waren, so unterschiedlich kleideten sie sich. Statt der eleganten Weiblichkeit der stets in Seide und Wolle gehüllten Frau, die in einem nahegelegenen Krankenhaus im Koma lag, sahen sie eine Gestalt vor sich, die für einen Nachmittag zu Pferde oder fürs Unkrautjäten gekleidet war: Tweedjackett, Kniebundhose und derbe braune Schnürstiefel. Lady Myrtle hatte eine Ausgabe der Zeitschrift Time and Tide unter dem Arm, hielt in der einen Hand einen robusten Gehstock und in der anderen einen metallenen Vogelkäfig.
»Hübsche Uniform«, schmetterte sie May entgegen, als sie deren gertenschlanken Körper taxierte. »Freut mich, dass Sie Ihre beruflichen Pflichten ernst nehmen. Und wer in aller Welt sind Sie?«
Diese Frage galt Evangeline. Lady Myrtles tiefe Stimme barg einen deutlichen Anflug jenes nordenglischen Akzents, den May bei den Matrosen auf den Zuckerfrachtschiffen nach Liverpool gehört hatte.
»Ich bin Evangeline Nettlefold, die Patentochter Ihrer Schwester aus Amerika«, setzte Evangeline an.
»Ach ja. Übergewicht. Ein Fall für die Wohlfahrt.« Lady Myrtle sprach in kurzen, abgehackten Sätzen, als wollte sie Telegrammkosten sparen. »Dann machen Sie sich mal nützlich. Der Lese
stoff. Bitte nehmen Sie ihn an sich. Jetzt.« Mit einem ungeduldigen Blick bedeutete sie May, die Zeitschrift unter ihrem Arm herauszuziehen. »Komische Sache, das mit meiner Schwester. Sehe sie allerdings kaum. Eine richtige Schnatterente. Was für eine Erleichterung, dass sie eine Weile den Mund hält.« Als sie die Missbilligung spürte, korrigierte sie sich überraschenderweise. »Aber über Kranke soll man ja nicht schlecht reden, vermute ich.«
Lady Myrtle und Evangeline nahmen auf der Rückbank des Wagens Platz, den Vogelkäfig in ihrer Mitte. Die Fahrt dauerte glücklicherweise nicht lange, im Nu hatten sie die lange Auffahrt erreicht.
»Kein schlechtes Haus. Typisch, dass Philip nicht hier ist, um mich herumzuführen. Hat mich seit Jahren nicht besucht. Und keine Spur von
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