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Als Mrs Simpson den König stahl

Als Mrs Simpson den König stahl

Titel: Als Mrs Simpson den König stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Nicolson
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zwei Straßenbahnwagen angehalten, geräumt und umgestürzt worden. Hochgehaltene Transparente zeugten von der politischen Zugehörigkeit der Demonstranten: Jüdischer Rat gegen Faschismus und Antisemitismus von Stepney, Labour Party, Kommunistische Partei. An mehreren Mau
ern waren mit riesigen Kreidebuchstaben die Worte »Dem Faschismus den Weg versperren« angeschrieben worden. Immer wieder riefen Menschen die Losung des Spanischen Bürgerkriegs: » ¡No pasarán! « – »Sie werden nicht durchkommen!«
    Über den unglaublichen Lärm hinweg drang eine vertraute Melodie an Mays Ohr. Allerdings war der Text, mit dem das amerikanische sozialistische Solidaritätslied »Solidarity Forever« unterlegt wurde, neu. May kannte es aus ihrer Heimat, die Plantagenarbeiter hatten es oft gesungen.
    »Ja, wir knüpfen Oswald Mosley an 'nen Sauerapfelbaum, wenn sie siegt, die rote Revolution«, sangen die Demonstranten in den Straßen des Londoner East End, bevor unheilverkündende Sprechchöre ihre Worte übertönten.
    »Der Jid, der Jid. Wir werden ihn los, den Jid.«
    Mays Gesicht verdüsterte sich vor Angst. Julian und sie blieben stehen, um zu Atem zu kommen. Julian legte ihr den Arm um die Schultern. Vor ihnen auf dem Bürgersteig stand ein etwa achtjähriger Junge. Er griff in seine Hosentasche und streute eine Faust voll Glaskugeln auf die Straße. Ein berittener Polizist verwünschte das Bürschlein.
    »Was zum Teufel machst du da? Verdammte Murmeln. Verdammt, die gehören verboten.«
    Aber der Beamte konnte nicht verhindern, dass die Hufe seines Pferdes abrutschten, als wäre das Straßenpflaster plötzlich aus Eis. Es glitt quer über die Straße, und die Zügel verhedderten sich. Der Reiter war machtlos. Doch irgendwie gelang es dem Tier, sich aufrecht zu halten. Wenige Zentimeter vor May und Julian kam es taumelnd zum Stillstand.
    »Geht zurück nach Palästina«, erscholl das Gebrüll von Gardiner's Corner, gefolgt von zwei Wörtern, deren knappe Botschaft eisig wirkte: » Perish Judah!« – »Juda verrecke!«
    »Sie müssen da drin sein«, sagte May zu Julian und zeigte auf die zerschmetterten Türen des Haupteingangs von Gardiner's.
    Julian kettete ihre Fahrräder an einem Laternenpfahl fest und legte seinen Arm um Mays Taille. Zusammen gingen sie auf das Geschäft zu. Die vorderen Schaufenster waren eingeschlagen; zwischen den gezackten Rändern der Glasscheiben kamen zwei Frauen herausgeklettert, die mehrere Ballen Harris-Tweed und geblümten Popelin unter den Armen trugen. Den Oberkörper über die Knie gekrümmt, fanden sie Sarah neben einem fast leeren Krawattengestell auf dem Boden kauernd. Sie stöhnte leise, so wie May die schwangeren Frauen der Plantage hatte stöhnen hören, wenn es so weit war. Rachel beugte sich über sie, ausnahmsweise einmal unfähig zu reden. In ihren Augen spiegelte sich Erleichterung, als sie May sah.
    »Mach dir keine Sorgen, Rachel. Wir bringen euch nach Hause«, besänftigte May die beiden Frauen und rannte dann mit Julian wieder hinaus auf die Straße.
    Ein Rettungswagen bewegte sich mit bimmelnden Glocken langsam weg von Gardiner's in Richtung Cable Street. Als May sich verzweifelt umsah, entdeckte sie den berittenen Polizisten, der sein Pferd inzwischen wieder in der Gewalt hatte.
    »Wir brauchen Hilfe«, brüllte sie ihm zu. »Meine Freundin. Sie bekommt ein Kind! Jetzt! «
    »Sofort, Miss«, sagte er. »Ich kümmere mich gleich um einen Fahrer für Sie.«
     
    Simon hatte über eine Stunde lang nach dem Arzt gesucht. Als er die Berichte über die Gewalttätigkeiten hörte, die in der Cable Street ausgebrochen waren, hatte er die Eingebung, dass Rachels Nerven mit ihr durchgegangen sein könnten. Außerdem hatte er Angst, dass die Aufregung angesichts des Trubels bei seiner Tochter Wehen auslösen könnte. Und die Vorstellung, Nat und er müssten das Baby möglicherweise selbst entbinden, bereitete ihm Unbehagen. Den Arzt hatte schon den ganzen Tag über niemand gesehen, und obwohl Simon mehrere Male an die Tür seines Hauses in der nahegelegenen Cyprus Street gehäm
mert hatte, hatte ihm niemand geöffnet. Als Simon es ein letztes Mal versuchte, machte ihm die Frau des Arztes auf. Sie trug einen Morgenrock.
    »Um Himmels willen, Mr Greenfeld, was für ein Lärm«, fauchte sie ihn an, verärgert über die Störung. »Er ist nicht hier. Er ist nach Aldgate gefahren, um dort zu helfen.«
    Als sie ihm die Tür vor der Nase zuschlug, wurde über ihr im ersten Stock ein

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