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Als Mrs Simpson den König stahl

Als Mrs Simpson den König stahl

Titel: Als Mrs Simpson den König stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Nicolson
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distinguiert aussehenden Herrn vertieft. Hin und wieder unterbrach sich die Frau und ermahnte den unruhigen Terrier zu ihren Füßen zum Gehorsam, indem sie kurz, aber heftig an der Leine zog.
    Julian wandte sich von dem Paar ab, um sich auf seine eigenen Gedanken zu konzentrieren. Er überlegte hin und her, für welche Vorgehensweise er sich entscheiden sollte. Sein beständiger Hang zur Unbeständigkeit erzürnte und erschöpfte ihn.
    Julian hatte Lottie seit ihrer Rückkehr aus Berlin erst ein Mal und Rupert noch gar nicht wiedergesehen. Mit einem geselligen Kommilitonen teilte er sich inzwischen eine Wohnung in der Nähe des Justizpalastes und hatte langsam seine alte, aus Tänzen, Abendessen und Wochenendpartys bestehende Gesellschaftsroutine wiederaufgenommen. Doch jedes Mal, wenn er nach langen Saufgelagen im Mirabelle und im Café Royal nach Hause kam, ekelte er sich angesichts seiner anhaltenden Verbindungen mit der Clique des Bullingdon Club vor sich selbst. Er hatte beabsichtigt, seine Beziehung zu Lottie ein für alle Mal zu beenden, doch obwohl er May gegenüber angedeutet hatte, es sei längst aus zwischen ihnen, hatte er mit Lottie in Wahrheit
noch gar nicht gesprochen. Als er sich unlängst auf einem Ball in Mayfair wie üblich gelangweilt hatte – dieselben alten Leute, dieselbe alte Musik und dasselbe alte belanglose Geplauder –, hatte er Lottie sogar geküsst. Zu seiner Entschuldigung hatte er sich eingeredet, er sei betrunken gewesen. Immerhin hatte er, als er sich von ihr verabschiedete, festgestellt, das sich jeglicher Funke sexuellen Begehrens, den er jemals für sie empfunden hatte, vollkommen verflüchtigt hatte. Nachdem er dem eigentümlichen Essiggeruch von Lotties Haut und ihren scharlachroten Lippen nachgegeben hatte, war ihm sogar übel zumute gewesen, als habe er einen Mundvoll schalen Biers geschluckt. Er war froh, dass sie beschlossen hatte, für ein paar Tage zu ihrer Großmutter nach Cornwall zu fahren. Er brauchte Zeit zum Nachdenken.
    Er hatte nicht geplant, sich in May zu verlieben. Als Freundin war sie die denkbar ungeeignetste Frau. Und bis zu dem Moment, als sie bei Cuckmere Haven zusammen in den Fluss gesprungen und aufs Meer hinausgeschwommen waren, war er fest entschlossen, ein weniger anarchisches und stattdessen anspruchsvolleres und verantwortungsbewussteres Leben zu führen. Als dann ihr schlanker Leib neben ihm im Wasser trieb – das Meer spülte ihr das dunkle Haar aus dem lieblichen Gesicht, und aus der Dünung der Wellen blickten ihn ihre großen grauen Augen an –, hatte er einen Moment völliger Klarheit erlebt, nach der er sich so lang gesehnt hatte. Selbst die Befürchtungen, die in ihm aufkamen, als sie hinterher den Strand hinauf zur Hütte kletterten, hatten sich in Mays Anwesenheit verflüchtigt. Falls er sich jemals gefragt hatte, ob er als Liebhaber genug Geschick beweisen würde, war ihm in dem Moment klargeworden, dass sie es bei ihrem ersten Mal gemeinsam erlernen würden. Während dieses Nachmittags am Meer, in der kleinen Hütte bei Cuckmere, hatte Julian Zeit und Ort vergessen und war sich nur in einem sicher: dass das Leben in jenem Augenblick vollkommen war.
    Fern der Hütte und fern den Umarmungen Mays hatte sich die nüchterne Wirklichkeit des Alltags schnell wieder in Julians Bewusstsein gedrängt. Aufwühlende Erinnerungen an die Gewalt in der Cable Street bestärkten ihn in der Überzeugung, dass er in einem innerlich zerrissenen Land lebte, das voller Selbstsucht, Heuchelei, Doppelmoral, Vorurteile und Geheimnisse war. Letzte Woche hatte er eine weitere Karte von Peter Grimshaw erhalten, dem Professor, den May und er in Wigan kennengelernt hatten. Grimshaw drängte Julian, sich ihm und seinem Freund Eric im Kampf aufseiten der Internationalen Brigaden in Spanien anzuschließen. Julian war versucht, der Aufforderung nachzukommen. Und doch. Dieses Zaudern, dieses Schwanken! Zum einen, stritt er mit sich selbst, würde schon in wenigen Wochen das Trimester beginnen, zum anderen war er, so versponnen es klang, immer weniger geneigt, in ein Land zu reisen, in dem er nicht dieselbe Luft atmen würde wie May.
    Allmählich begann der immer stärker werdende Wind, die mittäglichen Besucher des Hyde Park zum Aufbruch zu bewegen, und die Zeitungen wurden mit einer Endgültigkeit zusammengefaltet, die eine schnelle Rückkehr an den Arbeitsplatz ankündigte. Julian rückte seinen gestreiften Schal zurecht, zog ihn sich enger um den Hals und

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