Als Mrs Simpson den König stahl
sich die Nachrichten im Radio an, das zu einer ohrenbetäubenden Lautstärke aufgedreht war. Auf seinem breiten Bauch lag die aufgeschlagene Jewish Chronicle . Nat hatte die Times vom Vortag ausgelesen, die er sich gleich frühmorgens von seinem Freund, dem Butler, geholt hatte, und sich und seinem Schwiegervater deftige Hühnersandwiches gemacht, die sie mit dem Teller auf dem Schoß aßen, bevor sie ein Sonntagmittagsnickerchen machen wollten.
»Klingt nicht gut, die Sache in Aldgate«, sagte Simon eine Weile später und wies auf das Radio. »Wollten Rachel und Sarah nicht längst zurück sein?«
Plötzlich besorgt, sahen die beiden Männer einander unsicher an. Da klopfte es zwei Mal an die Haustür. Vor ihnen stand ein junger Mann mit Brille und weißblondem Haar, eine sommerliche Leinenmütze in der Hand und einen gestreiften Collegeschal um den Hals.
»Tut mir leid, dass ich unangemeldet hereinplatze. Mein Name ist Julian Richardson. Ich bin ein Freund von May Thomas. Ich hoffe, ich habe mich nicht in der Hausnummer geirrt?«
Einen Augenblick lang hatte Nat die beiden Frauen ganz ver
gessen. Er streckte Julian die Hand entgegen und begrüßte den Gast. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte er. »Freut mich ungemein. Kommen Sie doch herein. May ist oben. Ich hole sie gleich.«
»Ich wollte fragen, ob sie vielleicht Lust hätte, mit mir zu der Demonstration zu gehen«, erklärte Julian.
Auf der Treppe zögerte Nat. »Zu der Demonstration? Wollen Sie nach Aldgate?«
»Ja. Und ich dachte, May würde vielleicht mitkommen wollen.«
Kaum hatte May die Stimmen gehört, war sie bereits auf dem Weg nach unten. Bei Julians Anblick erhellte sich ihr Gesicht vor freudiger Überraschung.
»Ich dachte, Sarah und Rachel wären vom Park zurückgekommen. Immer tauchst du auf, wenn ich am wenigsten damit rechne«, sagte sie und strahlte ihn an. »Nat, das ist Julian. Nat ist mein Cousin. Du weißt ja.«
Nat sah sehr besorgt aus. »Meine Frau und ihre Mutter sind irgendwo da draußen. Ich erwarte sie schon seit einer Stunde zurück.«
May drehte sich zu ihm um. Ihr Lächeln war verschwunden.
»Sarah hat mir erzählt, dass sie zu Gardiner's wollten. In Aldgate. Aber du hast recht, Nat. Sie wollten schon vor einer Weile wieder zurück sein. Wir müssen sofort los und sie suchen. Wir können die Räder nehmen. Julian, kommst du mit? Nat, du wartest hier, falls sie auftauchen.«
Ohne einen Moment zu zögern, folgte Julian May in den Hinterhof, wo sie zwei Fahrräder aus dem Schuppen wuchtete.
»Ich weiß den Weg«, rief sie Julian über die Schulter zu und trat kräftig in die Pedale.
Gardiner's war zu Fuß etwa eine halbe Stunde von der Oak Street entfernt, mit dem Rad würde es nur zehn Minuten dauern, vielleicht weniger. May fuhr, so schnell sie konnte, an den
verbarrikadierten Geschäften vorbei und hoffte, dass Julian dicht hinter ihr blieb.
Als sie sich Aldgate näherten, schlug ihnen der donnernde Lärm der bereits hitzigen Tumulte entgegen. Als sie sich der Kreuzung Commercial Street und Whitechapel High Street näherten, wurde ihnen der Weg von einem umgestürzten Lastwagen verstellt, der mit Ziegelsteinen beschwert war. Ganze Betonstücke waren aus den Bürgersteigen herausgerissen, und die viereckigen Flecken nackter Erde ließen die Bürgersteige wie riesige, ungleichmäßige Schachbretter aussehen. Die Rufe und Schreie der ungeheuren Menschenmenge vor ihnen wurden immer lauter. Sie stiegen von ihren Rädern, zwängten sich durch eine Lücke neben dem Lastwagen und bogen um die Ecke, wo ihnen das ganze Ausmaß des gewaltigen Protests entgegenschallte.
Hunderte von Polizisten, viele davon beritten, kämpften mit einer bedrohlich hin und her wogenden Menschenmenge. Ziegelbrocken, Steine und Flaschen flogen durch die Luft. Obwohl Mosley selbst nicht zu sehen war, schien die ganze Menschheit versammelt. Juden und Faschisten, Kommunisten und Polizeibeamte rangelten mit den Wutentbrannten und den Neugierigen, den Jungen und den Alten, den Furchtlosen und den Ängstlichen. Einige Demonstranten hatten in Ermangelung anderer Waffen schwere Betonplatten zertrümmert. Jetzt hielten sie Stücke davon in den Händen und bahnten sich einen Weg durch die Menge. Überall auf den Bürgersteigen saßen Menschen, den Kopf in die Hände gestützt, die Gesichter blutüberströmt. Ärzte und Sanitäter kümmerten sich nach Kräften um die Verletzten. Von Laternenmasten wehten rote Fahnen. Vor dem U-Bahnhof Aldgate waren
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