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Als Mrs Simpson den König stahl

Als Mrs Simpson den König stahl

Titel: Als Mrs Simpson den König stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Nicolson
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eigne sich hervorragend, Sir Philip zu beeindrucken. Außerdem lieh sie May ein Paar Baumwollstrümpfe. May, die dergleichen noch nie getragen hatte, rollte die Strümpfe hoch und befestigte sie an den Strumpfhaltern, genau wie Sarah es ihr gezeigt hatte. Sie hatte nicht gewusst, dass Beine Klaustrophobie empfinden konnten; dabei versicherte ihr Sarah, das Material würde sich bald dehnen und an Knien und Knöcheln knittern. Im letzten Moment holte Nat eine ramponierte gestreifte Schachtel hervor, der er einen kleinen schwarzen Samthut mit einer kecken Feder an der Seite entnahm.
    »Bei dem Gedanken, dass die Tochter ihrer Lieblingsschwester an einem so bedeutenden Tag ihren besten Hut trägt, würde Mum sich geehrt fühlen. Er ist das Einzige, was das Gefängnis uns nach Mums Tod ausgehändigt hat. Alle anderen Kleidungsstücke waren verbrannt worden, weil sie zu dünn war, um sie zu tragen.« Nats Stimme stockte. »Aber Mum hatte nichts dagegen. ›Alles für die Sache der Suffragetten‹, sagte sie immer. Ich wünschte, sie hätte ein bisschen länger durchgehalten. Dann hätte sie noch erlebt, wie die Frauen das Stimmrecht erhielten und Lady Astor ihren Sitz im Parlament einnahm. Dann hätte sie gewusst, dass der Kampf sich gelohnt hat.«
    »Nun, ich werde versuchen, Tante Gladys und ihrem Hut alle Ehre zu machen«, sagte May und streckte ihren Hals, um Nat einen Kuss auf die Wange zu geben. »Hier kommt eine Frau, die es auf eine Männerstelle abgesehen hat.«
    Sarah setzte May den Hut auf und verkündete, er sitze wie angegossen.
     
    Als May im Dritte-Klasse-Waggon des Zuges saß, kam sie an zahllosen Hintergärten und -höfen vorbei. Die Szenerie, die an ihren Augen vorüberzog, war ihr fremd und schien unwirklich. Einige dieser winzigen Flecken Gartenkultur waren makellos in ihrer winterlichen Reinlichkeit. Die Blumenbeete waren mit derselben Sorgfalt umgegraben und geharkt, die man dem Kartoffelbelag einer Fleischpastete angedeihen lässt, das Laub war von den Gehwegen gefegt, und die stillen, kahlen Bäume wirkten wie skelettartige Silhouetten vor dem Himmel. Andere Gärten waren von Unkraut überwuchert. Und manchmal fuhr der Zug an einer verlassenen Hollywoodschaukel vorbei, die im dichten Nebel eben noch sichtbar war und deren Sitz in der Feuchtigkeit vermoderte. Ein Relikt vergangener Sommer. Die meisten der kleinen Grundstücke wirkten vollkommen leblos. Als der Zug jedoch langsam in einen Bahnhof einfuhr, konnte May eine schläfrige Katze entdecken, die sich am hinteren Zaun eines Hauses zusammengerollt hatte, und eine gebückte Gestalt, die aus einem Gartenschuppen trat, vermutlich um den häuslichen Anforderungen zu entgehen. Dieses unwahrscheinliche Puzzle halb gepflegter Gartenerde fügte sich trotz der offensichtlichen Diskrepanz seiner Einzelteile zu einer befriedigenden Gesamtcollage zusammen.
    Als die Londoner Vorstädte der trüben, grünlich-braunen Winterlandschaft von Sussex wichen, waren die Felder von dünnem Raureif überzogen. May hatte noch nie Schnee gesehen. Die Illustrationen, die Hans Christian Andersens Schneekönigin in ihrem weißen Pelzmantel zeigten, kamen einem solchen
Anblick noch am nächsten. In dem leeren Eisenbahnabteil gab es niemanden, mit dem sie ihre Begeisterung hätte teilen können. Sam hatte sie begleiten wollen, doch an dem Tag hatte er einen Termin an Bord der HMS President , eines riesigen Schiffs, das am King's Reach, nahe dem Königlichen Gerichtshof, permanent vor Anker lag. Sie fragte sich, wie er wohl zurechtkam. Seine Hoffnung, die Freiwilligenreserve der Royal Navy werde ihn als Unteroffizier annehmen, war zwar weit hergeholt, aber Sam zeigte sich zuversichtlich, dass er bald einen Uniformrock mit dem Heringsgrätenstreifen der Freiwilligen am Ärmelaufschlag tragen würde.
    Auch Nat hatte sich angeboten, May auf ihrer Fahrt zu begleiten. Aber sie hatte ihm versichert, sie könne sich auch allein zurechtfinden. In diesem Augenblick hatte sie sich irrsinnig unabhängig gefühlt. Der Zug bahnte sich seinen Weg durch die gefrorene Landschaft. Als hätte man eine Theaterkulisse für eine neue Szene ausgetauscht, kamen plötzlich die busenförmig gerundeten Hügel der South Downs in Sicht. May versuchte, die Feuersteinkirchen mit den bleistiftdünnen Türmen zu zählen, die in den grauen Himmel wiesen. Die Worte eines alten Gedichts purzelten in ihr Gedächtnis zurück, das ihre Mutter ihr oft vorgelesen hatte, als sie noch sehr klein war. Der Rhythmus

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