Als Mrs Simpson den König stahl
mit Teetassen, Teekannen, Rosinengebäck und Konfitüre balancierte. Auf der anderen Seite des weitläufigen Speisesaals schlängelte sich vorsichtig eine »Trippy« an den Stühlen vorbei und räumte ungeschickt das schmutzige Geschirr auf ihr Wägelchen. Bestimmt freute sie sich auf den Tag, da sie aufhören würde umherzustolpern und Anspruch darauf hätte, in den Rang einer »Nippy« erhoben zu werden.
Rachel bestellte bereits eine zweite Runde Pommes frites. Als sie der »Nippy« auftrug, darauf zu achten, dass die nächste Portion besonders heiß und großzügig gesalzen wäre, rülpste sie leise, aber ohne sich zu entschuldigen. May strich mit einem lauwarmen Kartoffelstäbchen an ihrem Tellerrand entlang, konnte sich aber nicht dazu durchringen, es tatsächlich zu essen. Auf der Busfahrt von Liverpool hatte sie denselben Geruch, vermischt mit dem Gestank von Zigarettenrauch, in der Nase gehabt, und ihr war übel geworden. Dennoch hätte sie gern genügend Geld gehabt, um für den Tee selbst zu bezahlen. May war mit zwanzig Pfund in London eingetroffen, die ihre Mutter ihr mitgegeben hatte. »Ich wünschte, ich könnte dir mehr mit
geben, Liebling«, hatte ihre Mutter gesagt. Damals waren ihr zwanzig Pfund wie eine hohe Summe vorgekommen, doch die Lebenshaltungskosten in London bedeuteten, dass sie rasch zur Neige gehen würden.
An den Wänden des Restaurants hing eine Reihe gerahmter Plakate von einer mehrjährigen Lyons-Werbekampagne, in der eine fiktive Gestalt namens George vorkam. Der Gag war, dass George nie dort war, wo man mit ihm rechnete. George war nie zu Hause, nie im Büro, tauchte nie am Bahnsteig auf, wo seine Frau schon auf den Zug wartete, erschien nie, um sich mit seinen Kindern ein Kasperletheater anzusehen, und traf nie auf dem Golfplatz ein; stattdessen hingen seine Knickerbocker schlaff über dem Gestell einer Vogelscheuche.
»Das Problem mit George ist, dass er immer zum Lyon ch geht«, erklärte Nat.
Drei Tage nach ihrer Ankunft in England saß May in einem der braunen Sessel im Wohnzimmer. Sie ging die kleine Büchersammlung im Regal durch und fragte sich, was mit Sarah geschehen war. Simon und Nat waren in der Schneiderwerkstatt, und Sam war zum Hauptquartier der Royal Navy gegangen, um sich zu erkundigen, wie er in den Freiwilligen Seedienst eintreten könne. In der Ecke stand eine Schneiderpuppe, bekleidet mit einem halbfertigen Hochzeitsanzug, den Nat als Gefälligkeit für einen guten Freund anfertigte. Nach all der Aufregung der ersten Tage wusste May nicht recht, was sie mit sich anfangen sollte. Die kalte Witterung, das Essen, der Verkehr, die Kleidung, all das verkündete ihr, wie anders das Leben war, das sie von zu Hause kannte. Sie hatte das Gefühl, als wäre ihr Innerstes nach außen gekehrt worden. Sie hatte überlegt, sich in ihrer Dachkammer aufs Bett zu legen, doch als sie an der offenen Tür zu Rachels und Simons Schlafzimmer vorbeikam, hatte sie Simon vor dem Spiegel stehen sehen. Er schob seinen dicken Bauch von einer Hand in die andere und sang dabei laut und
deutlich hörbar vor sich hin: »Schwabbel schwibbel, schwibbel schwabbel.« Er war splitternackt. May wollte auf keinen Fall seine Aufmerksamkeit auf sich lenken, indem sie die knarrende Leiter hinaufstieg. Stattdessen kehrte sie um und ging geräuschlos wieder nach unten.
Sie hatte gehofft, Sarah vorzufinden, doch dann fiel ihr ein, dass ihre angeheiratete Cousine ihre Lockenwickler und Haarbürsten zusammengepackt hatte und aus dem Haus gegangen war, um einer ihrer wohlhabenderen Kundinnen die Haare zu waschen und zu legen. Es handelte sich um eine dieser verwöhnten, gelangweilten Ehefrauen, die nur zu froh waren, ihre leeren Stunden damit zu füllen, dass sie sich eine Dauerwelle machen ließen. May hatte rasch gelernt, dass es im Haushalt in der Oak Street Gewohnheit war, hart zu arbeiten. Simons und Nats gut gehendes Schneidergeschäft bescherte der Nummer 52 vergleichsweisen Wohlstand, und gemeinsam versuchte die Familie ihr Bestes, die Armut, von der sie umgeben waren, ein wenig zu lindern. Es war in der Tat eine arme Gegend. Arbeitslosigkeit und die daraus resultierenden Entbehrungen führten oft zu verzweifeltem Verhalten. Kleinere Diebstähle waren an der Tagesordnung, sogar in der Oak Street selbst. Erst vor kurzem war im Hinterhof von Nummer 73 ein Paar wertvoller Brieftauben abhandengekommen, und aus der Haustür der Smiths in Nummer 54 war ein köstlicher Bratenduft gedrungen.
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