Als Mrs Simpson den König stahl
Die Smiths hatten zehn Kinder, und die älteren trugen Schuhe mit einem Loch an der Seite, ein Warnsignal an Pfandleiher, dass die Schuhe Eigentum der örtlichen Schule und nur ausgeborgt waren. Die Kinder versuchten, das Loch vor den Blicken ihrer Freunde zu verbergen, indem sie einen zusätzlichen Socken in den Schuh stopften, aber täuschen konnten sie damit niemanden. Simon und Nat gaben abgelegte Mäntel und Westen weiter, die in ihren Besitz gelangt waren, und Rachel schaute so oft wie möglich bei Nachbarn in der Straße vorbei, um übrig gebliebenes Essen an hungrige Mäuler zu verteilen. Sarah schnitt den Nach
barskindern die Haare, half ihnen mit ihren Buchstaben und Zahlen und erhielt dafür gelegentlich ein Ei von den Zwerghühnern, die in den Hinterhofställen gehalten wurden.
Bis auf Simon, der im Schlafzimmer seinen Bauch schwabbeln ließ, war das Haus leer.
Froh über die Gelegenheit, allein zu sein, ging May ins Wohnzimmer. Auf dem Ledersofa lag eine zwei Tage alte Zeitung. Nat war fasziniert von Politik und hatte schon vor langer Zeit gehört, die Times sei die Zeitung der gebildeten Schichten. Seine Nachbarn, falls sie überhaupt an Nachrichten interessiert waren, bezogen ihre täglichen Informationen aus dem Daily Worker . Aber Nat hatte sich mit einem Butler angefreundet, einem Kunden aus einer Villa im West End, für den er eine elegante Livree geschneidert hatte. Jeden Morgen nahm der Butler aus dem Rauchkabinett seines Arbeitgebers die Times vom Vortag mit, warf einen flüchtigen Blick auf die Sportseiten und reichte die Zeitung dann an Nat weiter. Sie trafen sich an der Bushaltestelle in der Bethnal Green Road oder aber im Goides, dem Café in Whitechapel, das jüdische Intellektuelle frequentierten, um bei einer Tasse dickem türkischem Mokka oder einem Glas Zitronentee Politik und Literatur zu erörtern.
May blätterte die Seiten von Nats Zeitung aus zweiter Hand um und suchte nach den Namen der Gewinner im jüngsten Fußballtoto von Littlewood's. Sam hatte angeregt, sie könnten ihr Glück im Toto versuchen.
»Jeden Morgen wacht jemand auf und findet eine gute Nachricht vor, eine Möglichkeit, seinem harten Leben zu entrinnen. Eines Tages werde vielleicht ich es sein. Dann werde ich mir eine Jacht kaufen«, träumte er vor sich hin, »und wir können um die Welt segeln wie Könige und Königinnen.«
Aber in der eselsohrigen Zeitung fand May keinerlei Hinweise darauf, dass jemandem ein solcher Geldregen zuteilgeworden wäre. Die ersten Seiten wurden von spaltenlangen Kästen mit Inseraten eingenommen. Die Titelseite enthielt Vermischtes:
Annoncen von Finanzberatern; persönliche Anzeigen von Spiritisten, die versprachen, das Selbstvertrauen von Menschen zu stärken, die in Ungewissheit lebten; und Einzelheiten über einen kostbaren antiken Perserteppich, der zum Sonderpreis von zweihundert Pfund zum Verkauf angeboten wurde. Auf der zweiten Seite wurden fast ausschließlich Lehrer für Knabenschulen gesucht. Auf der dritten stieß sie schließlich auf Spalten, die Hauspersonal vorbehalten waren. Die meisten verlangten Geschick in der Küche, doch Mays kulinarische Fertigkeiten beruhten auf wenig mehr als ihrer Rolle als Zuschauerin, wenn Bertha zu Hause für das Mittagessen der Plantagenarbeiter riesige Berge von Reis und Erbsen vorbereitete.
May klemmte sich die Zeitung unter den Arm und ging nach oben. Sie kam an Simons inzwischen geschlossener Tür vorbei und kletterte die jammernde Leiter hinauf, um aus dem Dachfenster zu schauen. Von dort blickte sie wieder einmal auf den Gedenkstein mit der ergreifenden Inschrift für die Männer, die bei der Ausübung ihrer Pflicht ums Leben gekommen waren. Sie fragte sich, welche Berufe diese jungen Männer hätten ergreifen können, hätten sie nicht ihr Leben verloren, bevor es richtig begonnen hatte.
Bruchstücke eines Gesprächs vom Vortag kamen ihr in Erinnerung. Die Greenfelds und die Thomas hatten einen flotten Spaziergang im nahegelegenen Victoria Park gemacht, und als sie die Straße überquerten, hatte May gespürt, dass Nat ihr Gesicht musterte. Er hatte schnell begriffen, was sie interessierte, obwohl sie sich erst so kurz kannten.
»Sag mal, May«, hatte er gefragt, »täusche ich mich, oder hast du eine geheime Leidenschaft für diese übelriechenden Maschinen?«
Bei dieser Bemerkung errötete May. Aber sie nickte und gab zu, dass der Anblick so vieler schöner Automobile sie faszinierte.
»Warum suchst du dir nicht eine
Weitere Kostenlose Bücher