Als Mrs Simpson den König stahl
das kleine Glasfenster zu sehen waren. Die Nadel rückte an Florenz, Fécamp, Paris und Stuttgart vorbei zu dem Punkt vor, der mit Home Service bezeichnet war. Es sprach der führende BBC -Ansager, Stuart Hibberd. Das Leben Georges V . neige sich friedlich dem Ende zu. Sie trauten ihren Ohren kaum. Niemand hatte den vollen Ernst seiner Krankheit erfasst. Die Feierlichkeiten zum Silberjubiläum im vergangenen Jahr und die kürzliche Weihnachtsansprache König Georges V . hatten die Menschen in dem Glauben gewiegt, dass das Leben der Nation in eine ruhige Phase eintrete und die langen Jahre der Großen Depression der Vergangenheit angehörten.
Big Ben schlug jede Viertelstunde, und mit jedem Glockenschlag wurde ein weiteres Bulletin über die Gesundheit des Königs herausgegeben. Rachel machte allen eine Tasse Tee, aber der Teller mit selbstgebackenen Zimtbrötchen neben dem Radio blieb unberührt stehen. Sarah legte mehr Kohle in die Glut des Kaminfeuers, bevor sie aus dem Zimmer ging, um sich eine Weile hinzulegen. Die anderen blieben dicht am Radioapparat
sitzen, plauderten oder lasen und warteten die ganze Zeit auf das nächste Bulletin des Buckingham Palace. Beim Klang der düsteren Stimme starrten sie alle unverwandt auf das Empfangsgerät, als komme die körperlose Stimme von einem sichtbaren Menschen und nicht aus einem unbelebten braunen Kasten. Weitere zweieinhalb Stunden verstrichen, ehe eine andere, noch tiefere Stimme über den Äther drang. Sie begann mit den Worten: »Mit großem Kummer …«
Sie alle wussten, was Sir John Reith, der Generaldirektor der BBC , als Nächstes sagen würde.
So viel Tod lag in der Luft. Erst drei Tage zuvor hatte May von den großen Begräbnisarrangements für Rudyard Kipling gelesen. Florence würde traurig sein, wenn sie hörte, dass ihr Lieblingserzähler gestorben war. Vielleicht könnte May Mr Hoochs Angewohnheit übernehmen, Florence einige dieser zauberhaften Geschichten vorzulesen. Die Vorstellung, dass eine Gutenachtgeschichte ihr die Möglichkeit gab, Freundschaft und Zuneigung zu entwickeln, reizte May sehr. Vielleicht würde diese Erfahrung dazu beitragen, die Erinnerung an Duncans abendliche »Nippchen« zu tilgen.
Zehn Tage nach dem Tod des Königs bekam May abermals zwei Tage frei. Die Familie Blunt und das Personal von Cuckmere waren über die Nachricht gleichermaßen erschüttert. Als Mrs Cage jedoch Sir Philip gegenüber die Bemerkung fallen ließ, wenigstens werde der Prinz von Wales ein ausgezeichneter Nachfolger des guten alten Königs George sein, hatte Sir Philip eher unheilvoll erwidert, er hoffe, sie habe recht. Auch die Oak Street war neugierig auf den Charaker des neuen Königs.
»Er kümmert sich wirklich, Edward«, sagte Rachel aus voller Überzeugung. »Ihm liegt unser aller Wohlergehen am Herzen. Und ich glaube, mit unserem Wunsch, dass ihm bald ein nettes Mädchen über den Weg läuft, stehen wir nicht allein da. Bestimmt hofft die ganze Welt zusammen mit seiner Mutter,
dass eine ausländische Prinzessin sein Herz dahinschmelzen lässt und ihm einen Sohn und Erben schenkt.«
Die Stimmen um sie her bestätigten ihrer aller Mitgefühl für die arme Königin Mary.
»Immerhin ist es eine gute Sache, dass wir nicht den Bruder als Thronfolger bekommen. Der ist doch noch grün hinter den Ohren, wenn ihr mich fragt. Kann nicht mal zwei Sätze aneinanderreihen, ohne sich zu verheddern. Neulich hab ich ihn im Radio gehört. Ist dauernd ins Stottern gekommen.«
Rachel hatte über die Königsfamilie stets eine Menge zu sagen. Es war eine ihrer Lieblingsmarotten. Dieser Bertie musste noch ein bisschen aufgepäppelt werden, fand sie, aber die Herzogin von York, die war in Ordnung. Vielleicht würde sie morgen im Leichenzug mitgehen. Rachel würde sie liebend gern leibhaftig sehen. Nein. Von Simon würde sie sich nicht davon abbringen lassen, morgen dem Begräbnis beizuwohnen, selbst wenn er es versuchte. Nichts würde sie daran hindern, ins West End zu fahren, um einem königlichen Begräbnis zuzuschauen, nicht einmal ihre schmerzhaften Schneiderballen. Vielleicht würde sie sogar einen Trauerbecher ergattern, um ihn ihrer königlichen Porzellansammlung hinzuzufügen.
Die Greenfelds trafen Vorbereitungen für den nächsten Tag. Mit Hähnchen belegte Sandwiches wurden in Pergamentpapier gewickelt, und die schwarzen Armbinden, die man am Tag des Waffenstillstands 1918 abgenommen und in Schubladen verstaut hatte, hervorgeholt. Im Radio war das
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