Als Mrs Simpson den König stahl
Spektakel mitgerissen. Ebenso eindrucksvoll war die Ehrenformation aus Matrosen, so fesch in ihren Uniformen, die ausgewählt worden waren, George V . auf seiner letzten Reise zu eskortieren. Obwohl Mays erster Eindruck von dem neuen blonden König, dessen schmächtige Gestalt von einem bodenlangen Wollmantel niedergedrückt wurde, eindeutig eine Enttäuschung war. Er war so klein . Dagegen übte die Karosse, in der Königin Mary saß, eine ganz andere Wirkung auf sie aus.
May musterte die Königinwitwe, deren spitze Haube durch das Fenster der Karosse eben noch zu erkennen war. Ihre schwarzen Kleider, kunstvoll, spitzenbesetzt, erstickend, sahen aus, als sollte man sie in einem Kostümmuseum ausstellen. Es waren Kleider von der Art, wie sie auf den Seiten der vergilbten britischen Illustrierten abgebildet waren, die sie noch aus der Arztpraxis von zu Hause kannte und deren Ränder sich der feuchten Hitze wegen immer zusammengerollt hatten. Den Blicken des Publikums war Königin Marys Gesicht hinter dem dichten Crêpeschleier fast ganz entzogen, doch als die Karosse an ihr vorüberfuhr, konnte May einen flüchtigen Blick auf ihr Gesicht werfen. Ihre Augen standen voller Tränen. May fragte sich, ob sie selbst einen Mann jemals so sehr lieben würde, um so traurig zu sein wie Königin Mary in diesem Augenblick.
Nach all der Aufregung fand May nur mit Mühe in den Schlaf. Sie glaubte nicht, dass sie sich je an die Händler gewöhnen würde, die zu allen Stunden klopften. Da gab es den Mann, der ätzendes, stinkendes Karbol verkaufte, eine dicke weiße Flüssigkeit, die man zur Reinigung von Bad und Küche verwendete, und es gab den alten Herrn, der seinen Vorrat an schmuddeligem Klebeband in einem alten Blechkinderwagen umherschob.
Ihre Lieblingshändler waren Loafy, der um Mitternacht das noch ofenwarme Brot brachte, und die Lavendeldame, aus deren Weidenkorb der klare, sommerliche Duft der violetten Blütenkelche aufstieg. Wenn sie sich aufs Bett stellte und durch das Dachfenster ins Dunkel spähte, konnte sie die ältliche Frau erkennen, die sich ihren Lebensunterhalt mit Weckdiensten verdiente. Dazu beschoss sie Fenster, hinter denen Männer in zu tiefem Schlummer lagen und Angst hatten, zu verschlafen und ihren Arbeitstag zu verpassen, mit getrockneten Erbsen.
May schloss bei dem Geräusch der schwirrenden Hülsenfrüchte das Fenster. Sie freute sich darauf, am nächsten Morgen den Frühzug nach Cuckmere zu nehmen. Sie war sich des Gegensatzes zwischen ihren beiden Leben sehr wohl bewusst. In der Oak Street lag nie etwas im Verborgenen; die Leute äußerten freimütig ihre Meinung, trugen das Herz auf der Zunge. Die Art der Blunts, mit Dingen umzugehen, war hingegen eher geheimniskrämerisch. Die gläserne Trennwand im Rolls-Royce wurde ständig auf- und zugeschoben; Informationen wurden eingestuft in solche, die für anderer Leute Ohren bestimmt waren, und solche, die es nicht waren; offene Türen wurden mit verwirrender Regelmäßigkeit geschlossen. Und doch hatte May allmählich das Gefühl, zum Haushalt von Cuckmere dazuzugehören. Sie genoss die Freundschaften, die sie einging, nicht nur mit Florence, sondern auch mit Mr Hooch, mit Cooky, der geschwätzigen Köchin, und der ein wenig undurchschaubaren Mrs Cage. Selbst Vera Borchby, die Gärtnerin, die die Gesellschaft anderer meist mied, hatte begeistert reagiert, als May sie gebeten hatte, sich den Rosengarten ansehen zu dürfen.
»Meine Mutter liebt Rosen«, hatte May sich eines Tages vorgewagt, als Vera in die Garage gekommen war, um Mr Hooch um etwas Gift gegen die lästigen Kaninchen zu bitten. »Und im Sommer würde ich so gern dabei zusehen, wie sie zum Leben erwachen, damit ich meiner Mutter davon berichten kann.«
»Es wäre mir eine Freude, sie Ihnen zu zeigen, May«, hatte die
Gärtnerin mit tiefer Stimme erwidert, und Mr Hooch hatte May hinter Veras Rücken anerkennend zugezwinkert.
»Vera ist sehr wählerisch, wenn es darum geht, wer ihre Rosen sehen darf«, hatte er May später erzählt. »Sie sollten sich geehrt fühlen, dass sie Gefallen an Ihnen gefunden hat.«
Auch Sir Philip und Lady Joan behandelten May mit ausgesuchter Rücksichtnahme. Und die Tätigkeit an ihrem Schreibtisch in Sir Philips Arbeitszimmer bereitete ihr allmählich ebenso viel Genuss wie die am Steuer des Rolls-Royce.
Vor allem aber freute sich May darauf, Mr Richardson wiederzusehen. Als Freund von Rupert Blunt hatte Julian einen Großteil der Universitätsferien
Weitere Kostenlose Bücher