Als Mrs Simpson den König stahl
fröhliche Geplapper der Varieté-Komödianten von der schwermütigen Melodie »Oh God, Our Help in Ages Past« abgelöst worden. Das dumpfe Pochen des Klagegesangs wurde von offiziellen Verlautbarungen über die Arrangements für das Staatsbegräbnis unterbrochen.
Am Dienstag, dem 28. Januar 1936, nahmen Rachel, Simon, Sarah, Nat, May und Sam die Untergrundbahn nach Westen zum St James's Park. Als sie aus der Station ins Freie traten, fan
den sie sich von auf Halbmast wehenden Flaggen umgeben und von schwarzen Wimpeln, die zwischen den Gaslaternen aufgespannt waren. Die sechs Monate zuvor so fröhlich geschmückten Straßen des Silberjubiläums waren nur mehr eine in Ehren gehaltene Erinnerung. Bedrohlich aussehende Krähen setzten sich kurz auf das niedergetrampelte Gras, nur um sich nach wenigen Augenblicken wieder in die Lüfte zu schwingen. An einigen Stellen standen die Menschen in Zehnerreihen auf dem Gehsteig. Sämtliche Kinos und Theater hatten eine Woche lang geschlossen, doch die Aussicht auf ein Schauspiel im wirklichen Leben machte den vorübergehenden Mangel an Unterhaltung auf Bühne und Leinwand mehr als wett. May blickte über das Meer von Blumensträußen, die in endlosen Reihen auf den Gehsteigen zur Westminster Abbey lagen. Sie hatte noch nie so viele Blumen gesehen. Ein Polizist teilte der Gruppe aus der Oak Street mit, dass die Menschenschlange, die darauf wartete, in die Westminster Hall zu gelangen, um den aufgebahrten König zu sehen, zweieinhalb Meilen lang war. So führte Nat seine Familie wieder zum U-Bahnhof zurück.
An der Paddington Station warteten sie eine halbe Ewigkeit auf die Ankunft des königlichen Sarges, um George V . vor seiner letzten Reise im königlichen Zug nach Windsor die letzte Ehre zu erweisen. May erblickte auf dem Gehsteig neben ihr zwei erschöpft aussehende Frauen, die halb knieten. Eine trug einen verbeulten malvenfarbenen Filzhut, der aussah, als wäre er durch die Mangel gedreht worden, während ihre Freundin in einem schlaffen, zottigen braunen Pelzmantel ebenso heruntergekommen wirkte.
»Komisch, wie sich die Welt so ratzfatz verändert, oder? Kommt mir vor, als hätten wir George erst gestern ermuntert, weitere fünfundzwanzig Jahre auf dem Thron zu bleiben«, murmelte die Frau mit dem malvenfarbenen Hut. »Gott sei seiner Seele gnädig.«
»Immerhin wird's 'ne hübsche Veränderung sein, mal einen
jungen Mann auf dem Thron zu haben«, entgegnete ihre Freundin.
»Einen jungen Mann?«, prustete der malvenfarbene Hut, sodass die Leute um sie herum sie anstarrten und tadelnd »Psst!« zischten. »Du machst wohl Witze?«, fuhr sie fort und senkte die Stimme zu einer respektvolleren Tonlage. »Edward ist doch mindestens vierzig. Sollte längst verheiratet sein. Für sein Alter ist das nicht natürlich, wenn du mich fragst. Ein König braucht eine Frau, genau wie ich einen Mann brauche.«
»Stellst du dich zur Verfügung, Dot?«, fragte die Frau im Pelzmantel.
»Schön wär's«, lautete die wehmütige Antwort des verbeulten malvenfarbenen Hutes.
Langsam schlug die erwartungsvolle Stimmung der hin und her wogenden Menge in Verärgerung um. Als sich der Trauerzug für den toten König noch immer nicht zeigte, erhob sich ungeduldiges Gemurre. Es war unvermeidlich und dauerte auch nicht lange, bis jemand aus der Tiefe der Menge herausbrüllte: »Wo ist George?« Die Frage unterbrach das feierliche Füßescharren und Hälseverrenken und löste eine Welle von Gelächter aus. Jemand anderes rief, ein Pünktlichkeitsfanatiker wie König George sei nicht die Sorte Mann, die zu spät zum eigenen Begräbnis komme.
»Der muss in seinem Sarg ja zittern vor Schreck«, kicherten sie, und die eben noch spürbare Unruhe wich wieder guter Laune.
Trotz der Trübsal des Begräbnisses musste May denken, dass sie ganz schönes Glück hatte, so bald nach ihrer Ankunft in England bei einem solchen Anlass zugegen sein zu können. Nicht in ihren wildesten Träumen hätte sie erwartet, sich so dicht in der Nähe von Mitgliedern des Königshauses aufzuhalten. Nach den weinenden Menschen um sie her zu urteilen, war der alte König offenbar sehr geliebt worden. Doch statt zu Tränen gerührt zu sein, fühlte sich May von alledem sehr beschwingt.
Schließlich traf die Lafette doch noch am U-Bahnhof ein. Der Sarg mit Georges funkelnder Krone, dem mächtigen Staatsschwert und dem großen, aus weißen Blumen geformten Kreuz obenauf war prächtig anzusehen. May fühlte sich von dem
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