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Als Mrs Simpson den König stahl

Als Mrs Simpson den König stahl

Titel: Als Mrs Simpson den König stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Nicolson
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Leibesfülle hing. Das zweite zeigte George V . am Tag seiner Krönung im Jahre 1911. Seine Schultern waren mit goldenen Epauletten beschwert, und sein dunkler Vollbart bildete einen Kontrast zu dem schütteren grauen Spitzbart auf dem dritten Foto, das während des Silberjubiläums im Vorjahr aufgenommen worden war und das den König und die Königin zusammen zeigte. Als das königliche Paar ins East End gekommen war, hatte Danny in der Menge gestanden. Der Andrang war so stark gewesen, dass Leute in Ohnmacht sanken, noch bevor sie eine Chance hatten, einen Blick auf das Paar zu werfen. Unter dem früheren Foto des Königs las man zwei Verse von Lord Tennyson:
     
    Eins mit Britain, Herz und Seele!
    Ein Leben, eine Flagge, eine Flotte und Ein Thron!
     
    Als Nat sich von den Fotos abwandte, fing Danny seinen Blick auf.
    »Ja, ich weiß. Falls die Nachrichten, die ich im Radio gehört habe, zutreffen und der arme alte König das Zeitliche segnet, müssen wir womöglich ein neues Foto aufstellen. Ruth möchte warten, bis Edward sich eine Frau sucht, aber ich hab ihr gesagt, da können wir bis in alle Ewigkeit warten.«
    »Trotzdem«, sagte Nat, »wenn die Abendnachrichten kommen, sollten wir lieber die Ohren aufsperren.«
    May lauschte dem Gespräch. Sie beobachtete, wie der Zigarettenrauch, den Danny gute fünf Minuten vorher inhaliert hatte, langsam und in dünnen Rauchfäden aus seinen Mundwinkeln strömte. In den zwei Wochen, in denen May für Sir Philip gearbeitet hatte, hatte sie ihn mehrere Male am Telefon reden
hören; mit ernster Stimme hatte er komplizierte Verfassungsfragen erörtert. Bei zwei Gelegenheiten hatte er sie gebeten, einen Anruf ins Büro des Premierministers durchzustellen, bevor er sie mit äußerster Höflichkeit fragte, ob sie etwas dagegen habe, für ein paar Minuten das Zimmer zu verlassen. Offensichtlich machte man sich erhebliche Sorgen in einer Angelegenheit, die das Privatleben des Prinzen von Wales betraf, auch wenn May noch nicht herausgefunden hatte, worum genau es sich handelte. Allerdings hatte sie genug gehört, um zu begreifen, dass Leute wie Sir Philip mit ihrem Status privilegierter Autorität sehr viel besser als irgendjemand im Queen's Arms oder sonst jemand in der Gegend um Bethnal Green darüber Bescheid wusste, ob es bald auch eine Prinzessin von Wales geben würde.
     
    Die Castors und ihre Gäste machten das Beste aus dem Wochenende. Am Sonntagmittag hatte der Krabben- und Schneckenverkäufer auf seiner wöchentlichen Runde vorbeigeschaut. Sein Pferdekarren war mit Garnelen, Strand- und Wellhornschnecken, Herz- und Miesmuscheln beladen. Neben den Weichtieren lagen auf einem weißen Tuch Sträußchen mit Brunnenkresse und Stangensellerie mit grünen Spitzen aus. Bei den wohlhabenderen Anwohnern der Oak Street war für eine sonntägliche Festmahlzeit gesorgt.
    »Rachel hat einen guten Blick für hübsche Schnecken, solche und andere«, sagte Nat grinsend zu May, bevor er mit einer Nadel in das Gehäuse einer besonders hartnäckigen Wellhornschnecke stach. Rachel liebte die koketten Anspielungen ihres Schwiegersohnes. Nat gefiel sich in dieser Rolle, doch selbst wenn seine lässige Männlichkeit auf andere Frauen attraktiv wirkte, seine liebevollsten Blicke hob er für Sarah auf.
    An jenem Abend, Sonntag, dem 19. Januar, ging die Familie ins Wohnzimmer, scharte sich um das Radio und lauschte den Melodien, die von Radio Luxemburg gespielt wurden. Mit den Füßen tippten sie im Takt, und manchmal standen sie auf, um
Wange an Wange zu tanzen, etwa zu Fred Astaires romantischem Song aus dem neuen Kinofilm I ch tanz' mich in dein Herz hinein . Sie summten zu den herzzerreißenden Klängen von »These Foolish Things«, die Leslie Hutchinsons cremige Stimme ins Zimmer schweben ließ. Der unter dem Namen »Hutch« bekannte karibische Sänger war eine glanzvolle Gestalt, dessen Stimme der Boulevardpresse zufolge sogar die Bewunderung des Prinzen von Wales auf sich gezogen hatte. Als Hutch vom Duft des Gardenienparfüms und vom Geschmack wilder Erdbeeren sang, entschwebten Mays Gedanken der Wirklichkeit kalter Wintertage und verwandelten sich in Träumereien über ein Leben der Liebe. Es entging ihr nicht, dass Nats Blicke auf der Gestalt seiner Frau im Sessel gegenüber ruhten.
    Als das Lied zu Ende ging, beugte sich Nat über den Radioapparat aus braunem Holz, drehte am Knopf und sah zu, wie der schmale Strich zögernd die bunten konzentrischen Kreise entlangzitterte, die durch

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