Als Mrs Simpson den König stahl
Sie befand sich nur eine Treppenflucht von ihm entfernt in einem beengten Zimmer, das normalerweise von den drei Töchtern der Zimmerwirtin bewohnt wurde, doch er hatte das Gefühl, als liege eine ganze Häuserzeile zwischen ihnen. Julian versuchte sich vorzustellen, wie May im Bett lag, eingehüllt in sein Ersatzhemd aus grauem Flanell, vermutlich das sauberste Kleidungsstück im ganzen Haus. Bei dem Gedanken, dass der Stoff seines Hemdes ihren nackten Körper umfing, musste er lächeln. Er verlagerte sein Gewicht im Bett, dabei schubste er den Schläfer, der neben ihm lag, von der Matratze auf den Fußboden, wo er um ein Haar einen fast randvollen Nachttopf umgestoßen hätte. Ohne ein Wort kletterte der noch immer schlaftrunkene Mann wieder ins Bett und setzte seinen Schlummer fort.
Wie er May erklärt hatte, als er sie bat, ihn nach Wigan zu fahren, hatte Julian gehofft, ein paar Tage im Norden würden ihm etwas von der Armut zeigen, in der – so hatte er gelesen – ein Drittel der britischen Bevölkerung lebte. Allmählich aber dämmerte ihm, dass es vielleicht nicht ganz so einfach war.
Auf der Herfahrt hatte May aus ihrer Skepsis keinen Hehl gemacht. »Meinen Sie wirklich, Sie werden verstehen, was es
heißt, arm zu sein, indem Sie durch ein paar Straßen laufen und ein bisschen Schmutz sehen?«
»Immerhin ist es ein Anfang, oder?«, hatte er erwidert, überrascht von ihrer unausgesprochenen Kritik.
Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht glauben Sie das ja wirklich. Aber nach allem, was ich in Bethnal Green gesehen habe, braucht es ein ganzes Leben, um wirklich zu verstehen, was Entbehrung heißt. Ich sollte Sie unseren Nachbarn dort vorstellen. Zehn Kinder in zwei Schlafzimmer gepfercht, die Eltern teilen sich die Couch, und die Mutter fragt sich jeden Morgen, welcher Hälfte der Familie sie an diesem Tag ein Abendessen vorsetzen kann. Und doch ist nicht alles nur Elend. Im Gegenteil. Ich glaube, Sie wären überrascht zu sehen, wie sehr die Leute sich ihre Lebensfreude bewahren. Auf unserer Plantage mussten wir Leute entlassen, wenn die Aufträge zurückgingen oder wenn der Regen ausblieb und die Zuckerernte schlecht ausfiel. Aber geklagt haben sie nur selten. ›Gott wird für uns sorgen‹, sagten sie immer. Ich glaube, das ist der Irrtum, dem einige anheimfallen. Sie vergessen, dass die Armen nicht einfach nur Teil einer Statistik sind, die vermögenden Weltverbesserern, Wohlfahrtsverbänden und der Regierung Grund zur Besorgnis gibt.«
Julian hatte nicht geantwortet. Mit einem pochenden Gefühl der Schuld war ihm die Erinnerung an etwas, was seine Mutter vor Jahren gesagt hatte, in den Sinn gekommen. Er hatte nicht ein einziges Detail der Geschichte vergessen, die sie ihm eher belustigt als stolz erzählt hatte. Vor dem Krieg war Mrs Richardson von ihrem Haus in Yorkshire in den Süden gereist, um eine Schulfreundin zu besuchen, deren wohlhabende Eltern in London lebten. Um die langen, unausgefüllten Zeiten zwischen einer Abendgesellschaft und der nächsten zu überbrücken, hatten sich die beiden jungen Frauen zwei Mal in der Familienkutsche ins East End vorgewagt. Auf den Rücksitz der Kutsche hatte der Butler zwei große Weidenkörbe gestellt, die Thermosflaschen mit herzhafter Karottensuppe enthielten. Mehrere Stunden lang
hatten die beiden Freundinnen Posten in einem kleinen Raum im Rathaus von Bethnal Green bezogen und an die Hungrigen und Notleidenden der Gegend Suppe ausgeteilt.
»Ich glaube, die Frauen waren dankbar, dass wir kamen«, hatte Mrs Richardson gesagt, »obwohl ich es sicherlich nie als meine Berufung angesehen habe, mich unters gemeine Volk zu mischen. Scheußlich schmutzige Arbeit. Und übelriechend!«
»Dich unters gemeine Volk zu mischen?«
»Ja, mich unters gemeine Volk zu mischen. So haben wir's genannt. Klingt gut, findest du nicht?«
So erschrocken Julian über die Erinnerung an den selbstgefälligen und überheblichen Tonfall seiner Mutter war, so kam ihm doch der leise Verdacht, dass er womöglich im Begriff war, eine Variante desselben Verhaltens an den Tag zu legen. Er wies den Gedanken von sich. Der Besuch in Wigan war nicht die Tat einer selbstzufriedenen Heuchlerin wie seiner Mutter, sondern diente einzig und allein echter Informationsbeschaffung. Dafür hatte er Sir Philip zu danken, der die Fahrt ermöglicht hatte.
»Eine sehr gute Idee, mein Bester. Ich möchte Ihren Bericht hören. Und was für eine ausgezeichnete Gelegenheit, Ruperts Wagen zu seiner
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