Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als Mrs Simpson den König stahl

Als Mrs Simpson den König stahl

Titel: Als Mrs Simpson den König stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Nicolson
Vom Netzwerk:
zur Hand und presste den blauen Stoffeinband ans Gesicht. Da sie wusste, dass ihre Mutter das schmale linierte Büchlein selbst in Händen gehalten hatte, wollte sie spüren, ob die Berührung ihrer Mutter in dem Einband bewahrt war.
    Der Weinkrampf hörte ebenso jäh auf, wie er begonnen hatte,
und May wurde still. Das blaue Buch hielt sie noch immer an die Wange gedrückt. Neue Bilder begannen aus der Tiefe ihres Gedächtnisses emporzusteigen, und als Erinnerungen an ihren Vater in ihr wach wurden, war das eben noch scharf umrissene Bild ihrer Mutter plötzlich kaum mehr fassbar. Sie mochte sich noch so sehr bemühen, ihre Gedanken auf Edith zu konzentrieren, doch sie kam nicht gegen die kalte Berührung von Duncans feuchten Händen an. Sie erinnerte sich, wie er Gespräche unterbrach, wenn sie mit ihrer Mutter allein war. Jetzt begriff sie plötzlich, dass er eifersüchtig gewesen war.
    »Was geht hier vor?«, fragte er dann wütend, seine Stirn von Schweiß überzogen, der sich langsam in Rinnsalen einen Weg über seine Nase bahnte. Seine lange Zunge schnellte durch die Zahnlücke hervor und fing die Tropfen auf, seine Lippen glänzten vor Feuchtigkeit. »Wir haben wohl alle Zeit der Welt zu verplempern, was? Einige haben's wirklich gut.« Seine nicht zusammenpassenden Vorderzähne machten seine Worte noch aggressiver.
    »Geheimnisse.« May sprach das Wort aus, langsam und laut. Der schlangengleiche Zischlaut verlieh ihm eine unheilvolle Bedeutung. Ihr Leben war übersät mit Geheimnissen, doch das »Nippchen« zur Gutenachtgeschichte war das größte gewesen.
    Sie schlug das blaue Buch auf, blätterte zu den hinteren Seiten und versuchte zum hundertsten Mal, sich selbst aufzumuntern, indem sie eine Liste von Notizen durchlas, die sie sich unter der Überschrift »Voraussetzungen für die wahre Liebe« gemacht hatte:
     
    1.
Kurzsichtige, Schnarcher oder Männer mit seltsamen Vorlieben beim Essen nicht von vornherein ausschließen.
 
2.
Lieben und geliebt werden.
 
3.
Zuhören, nicht nur hören.
 
     
    Diese Punkte stammten aus Gesprächen mit ihrer Mutter, aber May fand, dass jetzt die Zeit für eigene Einträge gekommen war. Zunächst durfte es zwischen ihr und dem Mann, den sie zu heiraten gedachte, keine Geheimnisse geben. Zweitens würde sie ihn unendlich begehrenswert finden müssen. Bei der Vorstellung wurde ihr übel. Wie konnte der behaarte Körper eines Mannes, wie konnte die Berührung von Männerhänden, die sich anfühlte, als würden Termiten über ihre Haut krabbeln, jemals eine Quelle der Lust sein? Wie konnte sie ihre eigene Nacktheit den Händen eines Menschen anvertrauen, der so viel größer war als sie? Wie konnte sie sicher sein, dass ihr nicht wehgetan wurde? Ihre Neugier auf Julian und ihre Begeisterung für seinen schönen Mund wurden unweigerlich verdüstert von dem Albtraum ihrer Erinnerungen aus ihrer Kindheit.
    Plötzlich fiel ihr Sam wieder ein. Sie stand auf, bürstete sich das Haar und wusch sich das verschmierte Gesicht, bevor sie zum Haus hinüberging. Sam saß in der Eingangshalle und tat so, als läse er Zeitung. In Wirklichkeit wartete er auf sie und setzte ein schiefes Lächeln auf, als er sie kommen sah. Sie fuhr ihn zum Bahnhof. Auf dem Bahnsteig klammerte sie sich an ihn und rang ihm das Versprechen ab, sich in der Oak Street bald wiederzusehen.
    Als May nach Cuckmere Park zurückkehrte, fand sie Florence mit einem Löffel in der Hand vor einer leeren Schüssel am Küchentisch sitzen. Die Überreste des Biskuitkuchenteigs, den die Köchin vorbereitet hatte, waren um ihre Lippen geschmiert. Wie üblich waren beide Zöpfe unordentlich, die kupferfarbenen Haarsträhnen hatten sich aus den locker gewordenen Schleifen gelöst. Florence legte ihre Arme um Mays Taille, dann stellte sie sich auf ihren Stuhl, um mit May auf Augenhöhe zu sein. Als Florence sie rasch auf die Lippen küsste, konnte May den ungebackenen Kuchenteig schmecken. Die plötzliche, intime, beruhigende Berührung gab ihr das Gefühl, es nicht länger ertragen zu können, allein zu sein, und so ging sie,
statt in ihr Zimmer zurückzukehren, nach oben, um nachzuschauen, ob Sir Philip nach Hause gekommen war. In einer Angelegenheit, die ihr seit einer Woche Kopfzerbrechen bereitete, hatte sie eine Entscheidung gefällt. Sie wollte Sir Philip um Erlaubnis bitten, Julian in den Norden fahren zu dürfen.

11
    Mitten in der Nacht war Julians Bett in der Fremdenpension in Wigan unter ihm zum Leben erwacht. Vor

Weitere Kostenlose Bücher