Als Mrs Simpson den König stahl
Bettwanzen und anderem Ungeziefer, das sich im Dunkeln in Bewegung setzte, hatte man ihn schon gewarnt. Am Vorabend hatte Julian im Pub eine gruselige Geschichte über eine Ratte gehört, die unlängst durch einen kleinen Riss in der Zimmerdecke eines Mietshauses ein paar Straßen weiter gefallen war. Sie war auf einem kleinen Jungen gelandet und hatte ihm eine klaffende Wunde in den Arm gebissen. Das Kind hatte Septikämie entwickelt und war kurz darauf gestorben. Mit zusammengekniffenen Augen suchte Julian die abblätternde Gipskartonplatte über ihm nach rattengroßen Löchern ab. Er bezweifelte, dass die Matratze unter ihm, genauso wenig wie irgendeine der anderen Matratzen in dieser Pension, jemals gereinigt worden war, und versuchte, nicht daran zu denken, wie viele Leiber sie in all den Jahren hintereinanderweg beherbergt hatte. Durch das einen Spaltbreit geöffnete Fenster drang der Gestank des Kanals, der neben der Straße verlief. Julian versuchte, den kräftigen Geruch von Feuchtigkeit und Schmutz zu lindern, indem er seine Nase in der Armbeuge verbarg, doch der Gestank war längst in seine Haut eingedrungen.
Wie er so auf dem flohverseuchten Gemisch aus Rosshaar und Schaumgummi lag, schlug er John Gunthers neues Buch über Europa auf. Er begann zu lesen: »Adolf Hitler, unergründlich, widerspruchsvoll, kompliziert, ist ein unberechenbarer Charakter; darin liegt seine Macht und seine Gefahr.«
Aber Julians Konzentration litt unter den Darmwinden, die sein schnarchender Bettnachbar absonderte. Obwohl seine Brille neben ihm auf dem Boden lag, griff er nicht danach. Für den Augenblick zog er es vor, die Einzelheiten seiner Umgebung im Verschwommenen zu belassen. Was würde wohl der neue Kö
nig von Wigan halten?, fragte er sich. Als Prinz von Wales hatte sich Edward unerwartet für die Benachteiligten der Gesellschaft interessiert und war für sein aufrichtiges Mitgefühl für das britische Volk gelobt worden. Lady Alexandra Metcalfe, die häufig bei Abendgesellschaften in der Hamilton Terrace zu Gast war und ebenso wie ihr Gatte Fruity den König gut kannte, hatte davon gesprochen, wie dieser sich in der behelfsmäßigen Bar einer leer stehenden Kirchenkrypta bei mehr als einer Gelegenheit mit erwerbslosen Männern ein Bier geteilt hatte. War es der vergnügungssüchtigen Amerikanerin zuzuschreiben, dass das Mitgefühl des Königs für das Leiden anderer nachgelassen hatte? Die Konfrontation bei jener schauderhaften Abendgesellschaft hatte bei Julian Skepsis gegen den Wert des Mannes hinterlassen, der seit kurzem auf dem Thron saß. Julian meinte, jemanden, der persönliche Gefühle vor moralische Grundsätze stellte, niemals begreifen zu können. Natürlich wäre es am besten, wenn beides zusammenfiel, aber er war sich nicht sicher, unter welchen Umständen dies geschehen konnte. Einen Moment lang überlegte er, ob er es wagen durfte, all das mit May zu besprechen, doch dann fiel ihm wieder ein, dass Sir Philip ihm und Rupert gegenüber erst neulich betont hatte, wie wichtig es sei, mit niemandem über das Dinner zu sprechen, auch nicht mit den Angestellten. In schwierigen Verhandlungen mit den Chefredakteuren der überregionalen Zeitungen hatte man erreicht, dass der Name Mrs Simpson von der britischen Presse bislang nicht erwähnt worden war. Die Regierung war übereingekommen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, damit es dabei blieb.
»Am besten hält man den Schnabel, bis die Sache abgeklungen ist. Wenn wir Glück haben, verläuft die ganze Geschichte von allein im Sande«, hatte Sir Philip gesagt und sich dabei wissend mit dem Zeigefinger an die Nase geklopft.
»Angesichts all der anderen Probleme, mit denen die Regierung zu kämpfen hat, zu Hause mit Mosleys Faschisten, im Aus
land mit Deutschland, und dann noch das stets wachsende Potenzial einer Revolution in Spanien, will der Premierminister nicht, dass die Öffentlichkeit von irgendeiner … äh … ähem … komplizierten persönlichen Beziehung des Königs erschüttert wird, eine Öffentlichkeit, die sich eben erst mit der Vorstellung eines neuen, modernen und populären Monarchen auf dem Thron anfreundet.« Er hatte sie über seine Brille hinweg angeblickt und gefragt, ob er sich klar ausgedrückt habe.
»Vollkommen, Sir«, hatten die beiden Freunde wie aus einem Mund geantwortet.
Julians Hauptsorge in diesem Moment galt jedoch weder der Politik noch den Bettwanzen noch dem Liebesleben des Königs, sondern dem Wohlergehen Mays.
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