Als Mrs Simpson den König stahl
ein eigenes Buch über Armut in Nordengland recherchiere und der verzweifelte, wenn auch erhellende Tage (falls dies das richtige Wort sei) in den Gruben verbracht habe. Eric sei nach London zurückgekehrt, aber er, Peter, sei noch geblieben, um Informationen für
einen Vortrag zu sammeln, den er vor Kollegen und Studenten halten und anschließend veröffentlichen wolle.
Als Julian ihm ihre missliche Lage schilderte, erbot sich Peter, sie zu seiner eigenen Unterkunft mitzunehmen.
»Um genau zu sein, Eric und ich, wir haben beide hier übernachtet. Die Unterkunft ist nicht besonders komfortabel, aber der Zimmerwirtin scheint es zu gefallen, so viele Menschen wie möglich in ihr Haus zu stopfen. Vielleicht kann sie etwas für Sie organisieren.«
Nach einer unbequemen Nacht war Julian aufgewacht und hatte gespürt, wie sich Peters Zehen unter der schmutzigen Decke in seine Schultern bohrten. Wenigstens war die Wärme eines anderen menschlichen Körpers ein kleiner Trost in dem eiskalten Raum, und er hoffte, sein Hemd würde zusammen mit der fadenscheinigen Tagesdecke auf dem Bett der Wirtstöchter dasselbe für May leisten. Sie hatte sich nicht gesträubt, als die Frau ihr das Zimmer unten zeigte, das als Quartier durchgehen sollte. In besseren Tagen musste der Raum als Wohnzimmer gedient haben, denn an einer Wand stand ein Klavier, dessen Umrisse unter Packen alter Zeitungen eben noch zu erkennen waren. Wie das Glück es wolle, erklärte die Wirtin, seien ihre Töchter zu Besuch bei ihren Cousinen auf dem Land.
»Wohlgemerkt, das gilt nur für eine Nacht«, hatte die Frau sie gewarnt. »Sie, junger Mann, können mit Peter Kopf an Fuß schlafen. Wenn meine Mädchen in die Pedale treten, sind sie morgen bei Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause, bis dahin müssen Sie beide fort sein.«
Julian hatte der Zimmerwirtin, Peter und vor allem May versichert, sie würden ihr Haus in aller Herrgottsfrühe verlassen. Er und May hatten geplant, noch ein paar Tage in Wigan zu verbringen, und er wollte, dass diese kostbaren Tage nicht von einer unangemessenen Unterkunft beeinträchtigt würden.
Bald musste er für ein letztes Sommertrimester nach Oxford
zurückkehren. Die Aussicht auf etwas so Endgültiges erfüllte ihn mit Unmut. Die Wochen würden von Prüfungen beherrscht werden und von dem selbstauferlegten Druck, sich hervorzutun. Er war entmutigt von all den Ungewissheiten, die ihn erwarteten, wenn er die Stadt verlassen würde, in der er ein beispielloses Gefühl der Zugehörigkeit genossen hatte. Oxford hatte Julian und fast jedem anderen Mitglied der sich ständig verändernden Studentenschaft eine mühelose und privilegierte Verbindung zu diesem besonderen Ort beschert. Ihm wurde ganz bange bei der Vorstellung, die vertrauten kleinen Pforten, die in die großen hölzernen Eingangstore der Colleges eingelassen waren, die zahllosen grasbewachsenen Innenhöfe, die Reihen von Fahrrädern, die am Hofeingang der Bodleian Library aneinanderlehnten, und die sich bauschenden schwarzen Talare, die, wenn ein jäher Windstoß sie blähte, ihren Trägern die Silhouette eines Zauberers verliehen, nicht mehr sehen zu können.
Trotz der Beständigkeit, die diese Umgebung ausstrahlte, wirbelten Julians Gedanken wild durcheinander. Er konnte nicht genau herausfinden, was er dachte, was er empfand, woran er glaubte, und neuerdings sogar, wen er liebte. Was seinen Abschluss anbelangte, so hatte er ursprünglich geglaubt, er eigne sich für die Fächerkombination Philosophie, Politik und Wirtschaft. In letzter Zeit jedoch hatten sich Zweifel in ihm eingenistet, ob er sein Studium wirklich ernst genug nahm. Er hatte das unbehagliche Gefühl, sich zu überfordern und doch nicht in die Tiefe vorzudringen. In diesem Trimester hatte T. S. Eliot den English Club besucht, um einige seiner Gedichte vorzulesen. Dieses Erlebnis hatte in Julian den Gedanken geweckt, ob die tieferen Wahrheiten des Lebens nicht viel eher in der Literatur zu finden waren.
Auch die politische Polarität der Welt beunruhigte ihn. Der Faschismus drang nicht nur in die hintersten Winkel Deutschlands vor, inzwischen erfasste er auch das übrige Europa; ganze Länder überschwemmte er mit einer Geschwindigkeit, mit der
eine geplatzte Wasserrohrleitung eine Straße fluten konnte. Vielleicht bot ja der Kommunismus die einzige brauchbare Verteidigungslinie.
Er konnte die Verstocktheit der privilegierten Klassen, mit denen er verkehrte, nicht begreifen; sie weigerten
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