Als Mrs Simpson den König stahl
die Gischt zuliefen, die, wenn sich die ungeheuren Wogen am Ufer brachen, hoch in die Luft aufschäumte. Dabei hatten sie sich jedoch stets an die Vorschrift gehalten, nie ins Wasser selbst zu gehen. Die Kabbelung war trügerisch, sie entwickelte einen mächtigen Sog, gegen den anzukämpfen nahezu unmöglich war. Vor Jahren war ein großes rot-weiß gestrichenes Schild aufgestellt worden, um Ortsfremde vor der Gefahr dieser Stelle zu warnen. Doch das Schild war Teil der Strandlandschaft geworden, und zusammen mit der Farbe der Lettern war auch die Dringlichkeit der Botschaft verblichen. Niemand nahm mehr Notiz von ihr. Da es weder Zeugen gab noch eine Erklärung ihres Vaters, konnten sie nur folgern, dass Edith Thomas von der starken Strömung
an der Ostküste der Insel mitgerissen worden war. War ihre Mutter, die die Gewalt dieser unberechenbaren Gewässer gut kannte, wirklich so sorglos gewesen? Vielleicht würden sie nie erfahren, was genau passiert war.
Das Gespräch wandte sich kurz ihrem Vater zu. Was er wohl empfand? Bis auf ein einziges Wort – »traurig« – hatte sein Telegramm nichts von seiner Gemütsverfassung preisgegeben. Ob er sich jetzt wünschte, dass beide Kinder auf die Plantage zurückkehrten? Wenn sie mehr wissen wollten, würden sie auf einen Brief von ihm warten müssen. Ausnahmsweise war May erleichtert, dass es auf der Plantage kein Telefon gab. Die unerschwinglichen Kosten einer Installation hatten zur Folge gehabt, dass dringende Nachrichten zu Pferd zugestellt werden mussten oder von May im Auto.
Ediths Kinder hatten ihre jeweils eigenen Gründe, in England bleiben zu wollen, aber weder May noch Sam waren gewillt, sie miteinander zu teilen. Sams Beweggründe waren durchsichtiger. Er fand großes Gefallen an einer Karriere in der Royal Navy, die bereits die erste Hürde genommen hatte. Im Februar hatte die Regierung ein Gutachten gebilligt, in dem der Ausbau der Marine befürwortet wurde, und Sam, bis dahin ein bloßer Freiwilliger, hatte »die da oben« hinreichend beeindruckt, um als Festangestellter der Flotte ausgewählt zu werden. Er dachte nicht im Traum daran, sich in die Beengtheit der Zuckerrohrfelder von Barbados zurückschicken zu lassen. Den anderen Grund, weshalb er sein neues Leben in England genoss, hatte Sam allerdings weder mit May noch mit seiner Mutter je besprochen. Es hatte mit Duncan zu tun. Etwas an seinem Vater versetzte ihn in Beunruhigung. Bei zahllosen Gelegenheiten hatte Sam ihn dabei ertappt, wie er May auf eine äußerst merkwürdige Weise ansah. Und einmal, als er überraschend ins Schlafzimmer seiner Eltern gestürmt war, hatte er gesehen, wie Duncan die Hand gegen seine Mutter erhoben hatte. Obwohl die Familie Thomas aus vier Mitgliedern bestand, hatte Sam immer
das Gefühl, als seien es nur drei. Aus irgendeinem Grund kam ihm Duncan wie ein Außenseiter vor. Sam sah ihm nicht einmal ähnlich, er hatte Ediths blondes Haar geerbt. Und May mit ihrer olivfarbenen Haut schien nach keinem der beiden Elternteile zu kommen, wobei sie ihr Temperament eindeutig von der Seite ihrer Mutter haben musste. Nichts von Duncans aggressivem Wesen trat je in seiner Schwester zutage.
Auch May wusste, dass sie nie mehr nach Barbados zurückkehren würde. Die Anwesenheit ihres Vaters dort wirkte schon abschreckend genug auf sie. Aber die Lücke, die der Tod ihrer Mutter gerissen hatte, und die Chancen, die ihr das neue Leben in England boten, bestärkten sie nur in ihrer Gewissheit. Abgesehen von der tiefen Zuneigung, die sie für ihren Cousin und seine Frau empfand, und den Herausforderungen und Aufregungen ihrer Arbeit, die sie nicht mehr missen mochte, verspürte sie wachsendes Interesse an einem besonderen Menschen, der ihre Gedanken jeden Tag mehr in Beschlag nahm.
Sam beschloss, zu dem Fluss zu spazieren, von dem May ihm so oft erzählt hatte. Wasser übte stets eine beruhigende Wirkung auf ihn aus, und so zog er los, ohne der Ironie innezuwerden, dass Wasser ihm unlängst die Mutter geraubt hatte. May, erschöpft von ihrem Versuch, die Tränen zurückzuhalten, ging in Mrs Cages Haus, um sich ein wenig hinzulegen. Nacheinander streichelte sie über jedes der kleinen Vergissmeinnicht an dem Silberkettchen, das sie an ihrem Handgelenk trug. Schließlich gestattete sie sich, heftig, laut und unkontrolliert zu weinen, bevor sie ihr Gesicht in der Daunendecke vergrub und den mit Paisleymuster bestickten Seidenstoff mit ihren Tränen benetzte. Dann nahm sie ihr Tagebuch
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