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Als Mrs Simpson den König stahl

Als Mrs Simpson den König stahl

Titel: Als Mrs Simpson den König stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Nicolson
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doch eine solche Autonärrin sind«, sagte er mit gespielter Gekränktheit.
    »Mich für Lampen auf Stangen interessieren? Sie müssen ver
rückt sein. Außerdem habe ich längst welche gesehen. Die stehen doch überall. So etwas entgeht einem nicht, wenn man Auto fährt, wissen Sie?«
    Sie sprach mit solcher Heftigkeit, dass Julian über seine eigene Wichtigtuerei lachen musste. Und dann lachte auch May. Gemeinsam schlenderten sie durch die Straßen, doch ihre sorglose Stimmung verflog, als sie bemerkten, dass sie mit ihrer sauberen, ordentlichen Kleidung und ihrem gesunden, wohlgenährten Aussehen neugierige Blicke unter den Passanten hervorriefen. Anfangs schien die düstere Verzweiflung, mit der Julian gerechnet hatte, allgegenwärtig. Vor ihnen erstreckten sich Reihen um Reihen identischer Häuser, Rücken an Rücken gebaut. In den Hinterhöfen hingen Wäscheleinen, auf denen frisch gewaschene Kleidungsstücke flatterten, längst wieder verschmutzt von einer Luft, die vom Kohlenstaub bitter schmeckte. In den Gossen lagen weggeworfene Brotkrusten und Teeblätter. Und kleinere Grünflächen, die der Stadt früher einmal einen hübschen Anstrich verliehen haben mussten, waren inzwischen von Friedhöfen verdrängt worden.
    May hörte, wie Julian immer wieder heftig nach Luft schnappte und dann den Atem anhielt. Ein Mann kauerte sich haltsuchend an eine Mauer, hustete sich die Seele aus dem Leib und rang zwischen jedem Anfall würgend nach Luft. Ein Matrose überquerte die Straße, einen Papagei auf dem Arm. Das zerzauste blau-grüne Federkleid des Vogels wirkte stumpf, als sei es in schlammiges Wasser getaucht worden. Ein kleiner Junge duckte sich vor der erhobenen Faust einer Frau in den Eingang eines Geschäfts. Sobald die Frau merkte, dass sie beobachtet wurde, ließ sie ihre Hand zumindest vorübergehend sinken. An Straßenecken und vor den hohen eisernen Fabriktoren standen Gruppen eng zusammengedrängter rauchender Männer; die Mützen tief ins Gesicht gezogen, die Jackenkragen bis zum Hals aufgestellt, den obersten Knopf zugeknöpft, scharten sie sich zu zweit oder zu dritt zusammen. Dann und wann zog einer
von ihnen seine Backen ein, bevor er einen Klumpen schaumiger Spucke auf den Bürgersteig spie.
    »All diese Männer und über zwei Millionen andere finden keine Arbeit«, sagte Julian kopfschüttelnd.
    Aber May hörte nicht wirklich zu. Sie betrachtete einen Mann, dessen Gesicht so mit Kohle verschmiert war, dass es den Anschein hatte, als könne kein noch so gründliches Schrubben die Schmutzschicht je entfernen. May lächelte ihm zu, und ihre Geste wurde mit einem freundlichen Nicken erwidert, das den Gesichtsausdruck des jungen Mannes aufhellte; sein Lächeln entblößte Zähne, die im Kontrast zu den rußigen Lippen blendend weiß wirkten.
    »Einen Moment lang hat mich der Junge an meinen Bruder erinnert«, sagte sie und musste bei dem Gedanken gleich noch einmal lächeln. »So ziemlich dasselbe Alter, glaube ich.«
    Sie gingen weiter, und als sie sich auf den Straßen genauer umschauten, offenbarte sich ihnen inmitten all der Hoffnungslosigkeit eine unbändige Lebensfreude. Vor den Hauseingängen liefen Gruppen barfüßiger Kinder herum und sprangen durch Seile und Reifen; sie spielten Fangen und jagten auf den kalten, harten Gehsteigen mit derselben Ausgelassenheit hintereinander her wie die Kinder, denen May beim Spielen auf dem pudrigen Sand ihrer Inselheimat zugesehen hatte. Frauen, die Arme straff über ihren schmutzigen Schürzen verschränkt, standen beieinander und teilten sich gegenseitig in lebhaften Gesprächen den neuesten Klatsch und Tratsch mit. Einige von ihnen knieten mit gekrümmtem Rücken und einer Bürste in der Hand über einem Eimer Seifenwasser, eifrig darum bemüht, die glänzendste Türschwelle hervorzubringen. Zwei Frauen schlugen ein Springseil und ließen sich von den Kindern, die zwischen ihnen über den wirbelnden Bogen hüpften, in ihrem Geplauder nicht stören. Zwei kleine Mädchen waren ganz und gar davon in Anspruch genommen, ihre Köpfe in den Himmel zu recken, und als May und Julian ihren Blicken folgten, entdeckten sie
einen Kondensstreifen, der dem Heck eines hoch oben dahinfliegenden Flugzeugs entstammte und in verwischten weißen Lettern das Wort OXO formte.
    Julian schloss die Augen. Ein Gefühl tiefer Scham beschlich ihn. Was hatte er sich von diesem flüchtigen Besuch im Norden erhofft? Auf der Hinfahrt hatte er vor May das Forschungsziel der Reise noch zu

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