Als Mrs Simpson den König stahl
verteidigen versucht. Jetzt fielen ihm seine Worte wieder ein, und er bereute sie. Beim Frühstück hatte May Peter von einigen der Familien erzählt, die im Viertel ihres Cousins in Ost-London wohnten. Die Kinder, von denen viele fast nichts besaßen, spielten und lachten so ungetrübt zusammen, als besäßen sie alle Reichtümer der Welt. Frauen, die unter Rückenschmerzen ganze Stunden des Tages mit Putzen und Kochen verbrachten und ihr Bestes taten, um mit dem Wenigen, das sie hatten, hauszuhalten, betrachteten das Leben mit einer Heiterkeit, die instinktiv und ansteckend war. Auch die Männer gaben sich nur selten geschlagen, obwohl ihre Erwerbslosigkeit bedeutete, dass sie ihren angestammten Platz in der Hierarchie der Gesellschaft jederzeit zu verlieren drohten, wenn sie nicht mehr für ihre Familien sorgen konnten. Mays Fähigkeit, auch hinter die trübsinnigen Kulissen zu schauen, war unverkennbar. Ihre Einsicht erschreckte ihn.
Am Abend war der Bürgermeister weitergezogen, und im Hotel waren zwei Einzelzimmer frei geworden. Julian schlug vor, sich einen Film anzusehen und hinterher etwas zu essen. Als Popeye, der Spinat essende Seemann, begleitet von seiner Freundin mit den halbkreisförmigen Augenbrauen, auf der Filmleinwand erschien, konnte May einen Aufschrei nicht unterdrücken.
»Da! Das ist sie! Anderer Körper, aber dasselbe Gesicht!«
»Wer?«, zischte Julian, verdutzt über ihren kleinen Ausbruch.
»Ich sag's Ihnen später«, versprach sie.
Aber später hatte Julian vergessen, May danach zu fragen, weshalb sie bei Olive Oyls Anblick so gelacht hatte. Stattdessen
fiel ihm auf, dass sie in ihrer Portion Fish & Chips nur herumstocherte und das meiste davon unangerührt ließ. Einer stillschweigenden Übereinkunft zufolge gingen sie am Ende des Tages, den sie miteinander verbracht hatten, auf das Gesehene und Erlebte nicht näher ein. Beide verspürten das Bedürfnis, dieses Thema eine Weile nicht anzusprechen. May wollte lieber mehr über Julians Leben in Oxford erfahren. Einmal habe sie diese schöne Stadt flüchtig vom Fenster eines Busses aus zu sehen bekommen, und seitdem wünsche sie sich, ihr einen richtigen Besuch abzustatten. Julian erzählte ihr, dass sein Vater früher an der Universität gelehrt hatte. Auch er selbst habe eine enge Verbindung zu Oxford. Statt ihn, Julian, einzuschläfern, hätten Matthew Arnolds träumende Türme seinen Geist geweckt. Lange Stunden in der Bodleian Library, in denen er alles verschlungen habe, was ihm in die Hände fiel, seien wie im Flug vergangen. Er fühle sich von Locke und Berkeley und anderen Philosophen, von denen May noch nie gehört hatte, ganz persönlich angesprochen, auch wenn er mit Kant nicht viel anfangen könne. Übrigens komme er nur schwer mit seinem Mitbewohner zurecht.
»Rupert ist Mitglied im Bullingdon Club«, erzählte er May. »Gott weiß, was die da treiben, außer zu trinken und zu essen und so viel kostbares Eigentum wie möglich zu zerstören. Vor etwa zehn Jahren haben ein paar Clubmitglieder im Peckwater-Hof von Christ Church fast fünfhundert Fenster zertrümmert. Ein Haufen gedankenloser, verwöhnter, versnobter, dummer Idioten«, sagte er, plötzlich aufgebracht. »Und außerdem ist ihr derzeitiger Held Oswald Mosley, der Faschistenführer, einer der verquersten Männer Großbritanniens. Gott weiß, wohin das alles noch führt.«
»Warum in aller Welt teilen Sie sich dann mit Rupert eine Wohnung?«, wollte May wissen.
»Ich bin da irgendwie hineingeraten«, gestand Julian. »Ehrlich gesagt, ärgere ich mich über mich selbst, dass ich die Ver
einbarung nicht beendet habe, als es noch ging. Aber jetzt ist es zu spät. Das ist mein Problem. Ich sage, ich will Dinge tun, und meine es auch so, aber dann fehlt mir der innere Antrieb. Dazu kommt, dass ich seine Eltern sehr schätze. Besonders seine Mutter. Die arme Lady Joan. Sie sorgt sich sehr um Rupert. Sie missbilligt all das rechte Gerede.«
Julian wechselte das Thema.
»Erzählen Sie mir von sich«, sagte er zu May. »In was für einer Gegend sind Sie aufgewachsen? Wie sehen die Westindischen Inseln aus? Ich weiß nichts von diesem Teil der Welt.«
May brauchte sich nicht lange auffordern zu lassen. Sie erzählte Julian von den Affen, die an ihren sehnigen Armen von den Bäumen der Plantage hingen und den richtigen Augenblick abpassten, um eine Banane vom Mittagstisch zu stibitzen. Sie sprach von dem Rascheln des Windes, wenn er flüsternd durch das schwankende
Weitere Kostenlose Bücher