Als Mrs Simpson den König stahl
der
winzigen Kirche, eigentlich eher eine Kapelle, nahm die Familie Blunt ihre angestammten Plätze in der ersten Reihe ein und rückte zusammen, um Platz für Evangeline zu machen. Mrs Cage und die Köchin setzten sich auf die Bank hinter der Familie, neben ihnen Florence und May. Die Gemeindemitglieder machten es sich bequem, lösten die bestickten Kniepolster von den Haken, schlugen die Gesangbücher auf und nickten Freunden auf der anderen Seite des Mittelganges zu. Als von der Orgel im hinteren Teil der Kirche die sanften Triolen von Bachs »Jesus bleibet meine Freude« erklangen, legte sich die Unruhe. Ein Spätankömmling, das honigfarbene Haar unter einer Mütze verborgen, eilte den Gang entlang und zwängte sich, als er sah, dass die Bank vorn voll war, in die Reihe dahinter, auf den Platz direkt neben May. Der Gottesdienst dauerte nicht lange. Die vertrauten Weisen »Führ, liebes Licht« und »O Gott, unsere Hilfe in vergangenen Zeiten« lösten in May Kindheitserinnerungen aus, denen sie nicht nachzugeben wagte. Alle waren so freundlich zu ihr gewesen, Miss Nettlefold seltsamerweise die Einzige, die May nur kurz und förmlich »mein Beileid« ausgesprochen hatte. Wenn May mit Miss Nettlefold allein war, wurde Mrs Thomas' Tod nicht erwähnt. May wusste, dass auch Miss Nettlefolds Mutter unlängst gestorben war, und vermutete, dass ihre Abneigung, über den Unfall in Barbados zu sprechen, damit zusammenhing, dass sie ihren eigenen Kummer noch nicht überwunden hatte.
Während der Gebete wurde May zunächst von Florence abgelenkt, die ihre Langeweile damit bekämpfte, an der Kirchenbank vor ihr zu kauen, sodann von Julian, der hartnäckig ihren Arm anstupste, um ihre Aufmerksamkeit auf die Person vor ihnen zu lenken. Evangeline versuchte mühsam, von dem bestickten Betkissen hochzukommen, in dem ihre fleischigen Knie zehn Minuten zuvor versunken waren. Julian, der zwischen Abscheu und Heiterkeit schwankte, beugte sich vor, um ihr seine Hilfe anzubieten. Aber die schwer atmende Evangeline unternahm
eine weitere Anstrengung, allein hochzukommen, und plötzlich ragte nur eine Handbreit von Julians und Mays Nase entfernt ein mächtiger Hintern auf, bevor er sich auf die hölzerne Bank plumpsen ließ. Der Druck an Mays Arm nahm zu, und zum ersten Mal seit vielen Tagen war ihr zum Lachen zumute.
Als Julian nun während der Fahrt von Wigan zurück in den Süden auf dem Beifahrersitz saß, hatte er Angst, abermals schmerzliche Erinnerungen in May zu wecken. Zuerst schien sie bereit, ja fast begierig danach, zu reden. Die zunehmende Ferne der Mutter und ihrer körperlichen Präsenz war mit das Schlimmste für May. Je weiter das Unglück in die Vergangenheit rückte, desto mehr musste sie sich anstrengen, um sich ins Gedächtnis zurückzurufen, wie es gewesen war, mit ihrer Mutter ganz alltägliche Dinge zu tun: spazieren gehen, essen, reden, lachen. Sie erinnerte sich daran, wie sie als Kind den Wunsch verspürt hatte, die untergehende Sonne zu fangen, damit sie nicht hinter dem Horizont versank.
»Bitte, lass sie nicht für immer verschwinden«, hatte sie ihre Mutter angefleht, als der scharlachrote Sonnenball jener verwischten Linie entgegenzufallen begann, die das Meer vom Himmel trennte.
»Nur keine Bange«, hatte ihre Mutter sie beruhigt. »Morgen, noch bevor du aufwachst, kommt sie wieder zurück.«
Entsetzt über die Vorstellung der ewigen Abwesenheit ihrer Mutter, reagierte May zu Julians Überraschung auf seine Frage nach ihrem Vater besonders unwillig.
»Ich möchte nicht über ihn sprechen.« Sie blickte auf, ihre Augen funkelten zornig.
»Natürlich, natürlich«, erwiderte Julian und versuchte, sie zu besänftigen, indem er seine Hand vorsichtig auf die ihre legte. »Würden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sagte, wie sehr ich Sie in diesem Augenblick beneide?«, fragte er. »Kennen Sie Tennysons Gedicht zum Gedenken an seinen Freund Hallam? Manchmal kommen einem die abgedroschensten Verszeilen in
den Sinn. Ich glaube, jeder versteht, dass es besser ist, geliebt und einen Verlust erlitten zu haben, als diese Erfahrung niemals gemacht zu haben. Aber es gibt eine Zeile, die mich sehr berührt. Darf ich sie Ihnen verraten?«
May nickte. Julians Hand ruhte noch immer auf ihrer.
»Sie stammt ebenfalls aus ›In Memoriam A . H . H .‹ und lautet: ›Ein Kindchen, das nach Licht schreit.‹ Mein Vater starb, als ich drei Jahre alt war. Meine Mutter lebt zwar noch, sie weiß aber nicht, wie sie
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