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Als Mrs Simpson den König stahl

Als Mrs Simpson den König stahl

Titel: Als Mrs Simpson den König stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Nicolson
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der beiden Männer neben ihnen gerückt, von denen der eine inzwischen dazu übergegangen war, das Ohr seines Freundes anzuknabbern. »Sie nennt uns ›seelenverwandt‹, weil wir am selben Tag in England angekommen sind. Natürlich können wir keine richtigen Freundinnen sein, wo sie doch Lady Joans Patenkind ist und ich die Fahrerin. Aber sie tut mir leid. Ich glaube, sie fühlt sich allein gelassen, im Abseits.«
    »Haben Sie gesagt ›seelenverwandt‹?«
    May wünschte, sie hätte ihm nicht so freimütig von den Perücken erzählt.
    »Ja«, erwiderte sie, in die Defensive gedrängt. »Aber ich mag sie. Sie ist anders.«
    »Sie ist ganz sicher anders«, stimmte Julian zu. »Aber meinen Sie nicht, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmt? Ich meine, abgesehen von ihrem Umfang und ihrem Appetit? Ganz zu schweigen von diesen riesigen Zähnen. Die sind ja wie Grabsteine! Um ehrlich zu sein, ich finde sie gruselig.«
    May war irritiert. Sie würde sich auf gar keinen Fall dazu hinreißen lassen, lieblose Bemerkungen über jemanden zu machen, der trotz des Unfalls mit Wiggle so freundlich zu ihr gewesen war. Schweigend aßen sie weiter. Wie eingebildet er doch ist , dachte May bei sich. Erschrocken darüber, wie schnell sie sich mit Julian überworfen hatte, war sie erleichtert, als sie wenig später das Lokal verließen und sich auf den Weg zur U-Bahn machten. Plötzlich war sie von der Überzeugung durchdrungen, dass sie sich bei Julian auf etwas einließ, von dem sie möglicherweise gar kein Teil sein wollte. Sie hatte vor, die Treppe hinunterzurennen, die zum U-Bahn-Tunnel führte, ohne sich noch einmal umzudrehen. Doch Julian fasste sie von hinten und hielt sie an beiden Schultern zurück. Er drehte sie zu sich um, zog ihr Gesicht heran und küsste sie fest auf die Lippen, ehe er sie wieder losließ.
    Sie polterte die Stufen hinab; die Sohlen ihrer Schnürschuhe
klapperten wie Kastagnetten auf den harten Flächen. Bevor sie im Tunnel verschwand, wandte sie sich um und sah noch, wie er ihr mit der Mütze nachwinkte. Zu ihrer Überraschung und Verärgerung schmeckte sein Tabak ebenso köstlich, wie er roch. Komisch , dachte sie. Die Macht des Geschmackssinns. Fish & Chips und geräucherter Tabak. Wie sonderbar, dass es von allen fünf Sinnen ausgerechnet das Schmecken war, das ihr eine ganz neue Gefühlswelt offenbarte. Hinterher wusste sie nicht mehr, ob er, als sie sich küssten, die Brille abgesetzt oder aufbehalten hatte. Sie wusste nur noch, dass ihr erster Kuss wunderbar gewesen war, und sehnte sich trotz ihrer Zweifel nach einer Gelegenheit, ihn zu wiederholen.
     
    Als May in der Oak Street die Tür aufschloss, war Rachel noch wach. Mit ihrer unbeirrbaren Direktheit warf sie einen Blick auf May und meinte: »Sag bloß, du hast dich in jemanden verguckt.«
    Rachels Musterung wurde von einem gewaltigen Niesen unterbrochen; sie schneuzte sich mit einem großen Taschentuch lange und fest die Nase, ehe sie es wieder in die Tasche ihrer geblümten Schürze steckte. »Ich seh's in deinen Augen, Mädchen«, fuhr sie fort und blickte May prüfend an, bevor sie ihr zuzwinkerte.
    »Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Rachel«, versuchte May auszuweichen. Einem Verhör fühlte sie sich nicht gewachsen. Sie vermisste ihre Mutter. An den meisten Tagen drang ihr Tod nur wie ein gedämpftes Summen in ihr Bewusstsein vor. Manchmal war das Summen so leise, dass es fast nicht zu hören war. Aber sobald jemand etwas über Mütter sagte, sobald sie auf eine bestimmte Seite in ihrem Buch oder auf eine Gedichtzeile stieß oder eine vertraute Melodie im Radio erklang, nahm das Summen zu. Manchmal erwachte sie aus einem besonders tiefen Schlaf, und dann überkam sie zwischen Dämmerzustand und Wachheit für wenige Sekunden die trügerische Erleichte
rung des Wahns, das Ganze nur geträumt zu haben. Ihre Mutter war gar nicht ertrunken. Edith saß noch immer in ihrem kleinen, von Büchern gesäumten Zimmer auf der Plantage und streckte die Hände nach ihren Kindern aus. Der Drang, zu ihrer Mutter zu fahren, überfiel May dann mit einer solchen Wucht, dass sie sofort aufbrechen wollte, heute noch. Aber sie brauchte nur in ihrem Bett liegen zu bleiben, mitunter in London, öfter aber in der Stille Cuckmeres, um zu begreifen, dass alles nur ein Traum war. May fürchtete sich vor diesen Augenblicken glücklicher Selbsttäuschung. Die Grausamkeit eines solchen Erwachens bedeutete, dass die frühen Morgenstunden schlimmer sein konnten als

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