Als Oma bist du ja ganz nett: Wie meine Mutter ein Enkelkind bekam (German Edition)
waren die Besuche der Hebamme. Sophie wurde gewogen und genau betrachtet. Ich konnte alle meine Fragen loswerden (»Ach, ich sollte den Body wechseln, wenn er dreckig ist?«) und hatte so etwas wie eine Verbindung zur Außenwelt (»Es regnet«). Nach dem fünften Tag reichte es mir, und ich wollte endlich wieder an die frische Luft. Ich zog alles an, was mir passte, und steckte Sophie ins Tragetuch. Mein Ziel war es, eingehakt in Oscars Arm die Straßenecke zu erreichen. Auf halber Strecke mussten wir wieder umkehren, weil mir schwindelig wurde. Ich war so stolz auf mich!
Als ich dann einige Tage später das erste Mal wieder einen Supermarkt betrat, überwältigte mich die bunte Warenwelt. Alles war so schön und fröhlich, und ich konnte mir ganz alleine aussuchen, was ich essen wollte. Sogar mein eigenes Geld hatte ich dabei. Ich holte es aus meinem Umhängeportmonnaie und bezahlte stolz einen Schokoriegel, sechs Brownies, eine Packung Nudeln und eine Flasche Malzbier. Zu Hause angekommen, köpfte ich sofort die Flasche und trank sie in einem Zug aus. Das war eine beschwerliche Reise gewesen.
Schrecklicher als die Tage waren die Nächte. In den Wochen vor der Geburt hatte ich mir angewöhnt, elf oder sogar zwölf Stunden zu schlafen. Natürlich wusste ich, dass das nicht so bleiben würde, aber ich brauchte diesen Schlaf so dringend. Die Schwangerschaft raubte wirklich viele Kräfte. Doch jetzt wurde ich alle zwei oder drei Stunden geweckt. Und jedes Mal musste ich eine halbe Stunde lang ruhig halten und durfte auf keinen Fall einschlafen. Meine Brüste waren derart prall, dass ich sie immer mit voller Kraft festhalten musste, um Sophies Nase freizuhalten. Ich weiß noch, wie glücklich ich war, als sie das erste Mal fünf Stunden durchschlief.
Wäre ich allein gewesen – ich weiß nicht, wie ich das hätte schaffen sollen. In dieser Zeit gewann ich die Erkenntnis, dass alleinerziehende Frauen, also solche wie früher meine eigene Mutter, einfach Großartiges leisten. Sie sind eine viel zu wenig wahrgenommene Gruppe in Deutschland, für die es einen Extrafeiertag und Extrageld und Extraplätze in Straßenbahnen geben sollte. Immer wenn ich nämlich mit den Kräften am Ende war, stand Oscar an meiner Seite und nahm mir Sophie ab.
Das Seltsame an der Anfangszeit war, dass ich mich freute über das Kind und natürlich glücklich über alles war. Aber gleichzeitig war das das Endgültigste, was mir je passiert war. Die Vorstellung, dass ich für immer verantwortlich sein würde, machte mir Angst. Wenn meine Mutter witzelte, sie würde gleich das Jugendamt verständigen, sollte Sophie nicht aufhören zu weinen, perlten mir Schweißtropfen die Stirn hinab. Obwohl es natürlich nichts zu ertappen gab, hatte ich oft das Gefühl, eine kalte Hand auf der Schulter zu spüren, die sagt: »Na, hast du auch alles richtig gemacht?« Oscar, mein ewiger Leuchtturm, einige Freunde und auch meine Eltern waren es, die mir immer wieder sagten, dass alles genau richtig lief. Oscar versuchte, mir Stück für Stück Selbstbewusstsein einzuträufeln. Doch ich würgte das Zeug immer nur aus. Noch sah ich nichts hinter meinem Schleier der völligen Erschöpfung, worauf ich stolz sein konnte.
Ich empfand es als Vorwurf, wenn Sophie schrie. Ganz klar hatte ich etwas falsch gemacht und mal wieder versagt. Als meine Mutter nach einer dieser endlosen Schreiattacken einmal anrief, sagte ich wütend und desillusioniert: »So, sie kann jetzt wieder gehen, es reicht mir mit diesem Kind.« Zum Glück sagte sie nicht: »Na, das hättest du dir aber vorher überlegen können.« Oder »Tja, so ist das eben. Babys sind halt kein Zuckerschlecken.« Das war mir alles vorher klar. »Das bedeutet ja aber nicht, dass du nicht trotzdem so fühlen darfst.« Natürlich sollte Sophie nicht wirklich gehen, ich war einfach heillos überfordert. Da tat es gut zu merken, wie bei meiner eigenen Mutter die Erinnerungen zurückkamen: »Ich hab dich dann immer in den Kinderwagen gesteckt und bin rausgegangen. Das tat jedenfalls besser, als dich zu Hause rumzutragen.« Danke, Mama. Wenigstens eine, die einen klaren Gedanken fassen und sogar formulieren konnte.
Eine frischgebackene Mutter macht alles nach bestem Wissen und Gewissen und wird dennoch immer wieder verunsichert und genervt sein. Sie braucht Bestätigung, Mitgefühl, Liebe und mindestens eine helfende Hand, die ihr beim Aufstehen hilft, weil der Beckenboden noch nicht wieder auf Vordermann gebracht ist.
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