Als ploetzlich alles anders war
summte.
Tinka schaute Louisa immer noch an. Louisa nahm ihr blasses ovales Gesicht aus den Augenwinkeln wahr, wie es mit der Wange auf der Kopfstütze lag, hörte Tinkas zwar leisen, aber immer ein bisschen rasselnden Atem. Louisa blickte stur aus dem Fenster, obwohl es da gar nicht viel zu sehen gab, weil die Scheiben alle beschlagen waren. Sie war morgens nie sehr gesprächig und dieses Starren machte sie nervös. Schließlich rückte sie mit einem ärgerlichen Schnaufgeräusch noch ein Stück weiter von Tinka weg, damit die nur ja endlich begriff, wie aufdringlich Louisa sie fand. Nur weil sie beide behindert waren und morgens zufällig im gleichen Schulbus saßen, mussten sie nicht zwangsläufig Freundinnen werden. Hoffentlich ging das jetzt nicht jeden Morgen so. Ein Grund mehr, es doch irgendwann mal allein mit dem Schulweg zu versuchen.
» Hast du heute Nachmittag Zeit, Louisa?«, fragte Fee, als Louisa in die Klasse und an ihr vorbei zu ihrem Platz gerollt war. Sie drückte die Bremshebel herunter, öffnete den Gurt und stützte sich beim Aufstehen an der Tischkante ab.
» Nein«, erwiderte Louisa knapp und setzte sich auf ihren Stuhl. » Ist aber nett von euch, dass ihr mich fragt!«
» Wir hätten dich gestern auch gefragt, aber wir wussten nicht, wie das bei dir ankommen würde«, sagte Hatice kleinlaut. Louisa spürte einen stecknadelfeinen Stich in der Magengegend. Sie waren beste Freundinnen seit so vielen Jahren und auf einmal wussten sie nicht mehr, wie sie miteinander umgehen sollten. Es wäre gar nicht so schwer gewesen, wenn sie begriffen hätten, dass Louisa als Person immer noch dieselbe war, auch wenn sie nicht mehr laufen konnte.
» Zerbrich dir mal nicht meinen Kopf. Ich steck das schon weg, dass ich ein paar Sachen jetzt nicht mehr kann«, antwortete Louisa barsch. Wenn sie nur nicht alle immer wie ein rohes Ei behandeln würden, das setzte sie nämlich erst richtig unter Druck.
Jetzt geht doch bitte so wie früher mit mir um, seid sauer auf mich, wenn ich Mist baue, und sagt mir unbedingt immer die Wahrheit, weil ich sonst das Gefühl habe, gar nicht mehr da zu sein, dachte sie, konnte sich aber irgendwie nicht dazu durchringen, es wirklich auszusprechen. Insgeheim hoffte sie nämlich, die anderen würden es auch von allein begreifen und ein wirklich echtes Interesse damit beweisen. Müsste man sie erst mit der Nase daraufstoßen, wäre das nur halb so viel wert. Da könnte sie ja auch gleich Gebrauchsanweisungen verteilen.
Mit Louisa-im-Rollstuhl geht man folgendermaßen um!
In der Englisch-Stunde gab Frau Fuchs den Vokabeltest zurück.
» Deinen habe ich nicht bewertet, Louisa«, sagte sie leise, fast schuldbewusst.
» Aber warum denn nicht?«, rief Louisa, als sie beim Überfliegen des Arbeitsbogens die vielen Fehler bemerkte, die Frau Fuchs nur ganz dünn mit Bleistift angestrichen hatte. Fünfzehn, zwanzig– viele davon Flüchtigkeitsfehler, was aber auch kein Trost war. Für Louisa machte es keinen Unterschied, ob der Test nun bewertet wurde oder nicht. Sie spürte, wie eine heiße Panikwelle über sie hinwegschwappte. Die Fehler sprachen für sich und Louisa hatte plötzlich Angst, sie würde jetzt gar nichts mehr auf die Reihe kriegen.
» Alles okay, Louisa?«, fragte Fee im Flüsterton.
Louisa verdeckte ihren Arbeitsbogen mit einem Buch und nickte.
Sie hatte noch nie eine so schlechte Arbeit geschrieben, nicht mal in Mathe, wo sie zwischen einer Drei und einer Vier immer etwas auf der Kippe stand.
Es hatte natürlich mit den Folgen ihrer schweren Kopfverletzung zu tun, dass sie sich jetzt häufig so schwer konzentrieren konnte, schnell müde wurde und manchmal so erschöpft war, dass sie nur noch schlafen wollte.
Sie würde Geduld haben müssen, hatte der Arzt in der Klinik gesagt. Und sie müsse sich Zeit geben, weil sie in allem nun ein bisschen langsamer wäre. Dürfte sich nicht unnötig unter Druck setzen, um sich damit nicht völlig zu blockieren.
Aber keiner hatte ihr sagen können, ob sich die ganze Mühe auch wirklich lohnen würde. Sie hatte die Hoffnung, vielleicht eines Tages doch wieder ganz die Alte zu sein, nie wirklich aufgegeben, auch wenn sie immer so cool tat, sie war es nicht. Aber nun wurde ihr schlagartig klar, wie töricht das gewesen war.
Louisa hatte zwar auch vor dem Unfall noch keine richtig konkreten Vorstellungen von ihrer Zukunft gehabt. Aber sie hatte sie sich ausmalen und Pläne schmieden können. Jetzt kam ihr das eigene Leben vor
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