Als ploetzlich alles anders war
lästig sein, aber keine würde sich trauen, ihr das zu sagen?
Heute strengte es Louisa wieder enorm an, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Die Heizungen liefen auf Hochtouren und es war so heiß im Klassenzimmer, dass Louisa sehr schwitzte und Atmungsprobleme bekam. Frau Fuchs fragte besorgt, ob mit ihr alles in Ordnung wäre. Ihre Stimme war vor Unsicherheit ganz dünn. Vielleicht hatte sie Angst, Louisa könnte gleich einen Anfall haben und mit Schaum vor dem Mund aus dem Rollstuhl fallen. Die meisten Menschen hatten eine sehr seltsame Vorstellung von ihrer Behinderung und dachten offenbar, alle Behinderungen hätten die gleichen Begleiterscheinungen, was völliger Quatsch war.
» Mir geht’s gut«, erwiderte Louisa und versuchte, sich weiter nichts anmerken zu lassen. Die vier Vormittagsstunden hielt sie auch tapfer durch, vom Sportunterricht, den sie heute im letzten Block hatten, war Louisa befreit. Insgeheim bedauerte sie das, weil sie immer gern Sport gemacht hatte. Aber für welchen Sport würde sie denn jetzt noch taugen? Früher war sie eine der besten Werferinnen bei irgendwelchen Ballspielen gewesen und beim Boden oder Geräteturnen hatten immer alle ihre Beweglichkeit bewundert. So biegsam wie Gummi, na klar, das kam vom Ballett und vom Eislauftraining. Es war ein grandioses Gefühl gewesen, so graziös und gelenkig zu sein, und es war furchtbar, jetzt daran zu denken.
» Die hat’s gut«, hörte Louisa eines der weniger sportlichen Mädchen aus ihrer Klasse leise sagen, als Louisa aus der Klasse rollte.
» Wir können ja tauschen«, murmelte Louisa bitter, als sie außer Hörweite war. Bestimmt hatte ihre Mitschülerin das ganz unüberlegt dahingesagt und Louisa wollte weder sie noch sich selbst in Verlegenheit bringen. Manchmal hatte sie das ewige Kämpfen auch satt. Kämpfen um Anerkennung, Kämpfen um jede Bewegung, Kämpfen um die Hoffnung, dass es doch mal wieder besser werden würde– denn daran glaubte Louisa immer weniger– Kämpfen einfach um alles, was anderen in den Schoß fiel.
» Hast du mal eine Minute, Louisa?«, fragte Frau Fuchs, die Louisa mit schnellen Schritten gefolgt war. Louisa blieb stehen, drehte sich aber nicht um, sondern wartete, bis Frau Fuchs sie eingeholt hatte.
» Ich würde mich gern mal mit dir und deinen Eltern über deine Zukunft unterhalten«, sagte Frau Fuchs, während sie ihre Mappe fest unter ihre Achsel drückte, nachdem sie einmal heruntergerutscht und auf den Boden gefallen war.
» Meine Zukunft?«, erwiderte Louisa verdutzt. » Wie meinen Sie das?«
Frau Fuchs umklammerte ihre Mappe. Es fiel ihr sichtbar schwer, Louisa eine Antwort zu geben.
» Also versteh mich jetzt bitte nicht falsch, Louisa. Du bist bestimmt ein intelligentes Mädchen. Aber ich habe den Eindruck, dass du große Probleme mit dem Unterrichtsstoff hast und eine normale Schule vielleicht nicht die Möglichkeiten hat, das aufzufangen. Deshalb wäre es vielleicht besser, du würdest im nächsten Jahr Hilfe…«
» Nein«, rief Louisa. » Nur weil ich ein bisschen mehr Zeit für alles brauche, ist das noch lange kein Grund, mich einfach abzuschieben.«
» So habe ich das ja auch gar nicht gemeint«, antwortete die Lehrerin bestürzt. » Wie ich gehört habe, möchtest du nach der sechsten Klasse auf ein Gymnasium gehen, was vielleicht ein bisschen schwierig wäre, wenn…«
» Bis dahin ist es immerhin noch über ein halbes Jahr. Ich schaffe das, weil ich es schaffen will«, schnitt Louisa ihrer Lehrerin zornig das Wort ab.
» Du hast das völlig missverstanden«, beteuerte Frau Fuchs verwirrt.
Das behaupteten sie alle, wenn sie etwas gesagt oder getan hatten, was ihnen hinterher peinlich war. Es interessierte Louisa nicht, w i e Frau Fuchs das gemeint hatte. Entscheidend war, dass sie das Thema überhaupt angeschnitten hatte. Das zeigte, wie sie über Louisa dachte, die sie offenbar für zu beschränkt hielt, um weiter eine normale Schule zu besuchen. Louisa war so empört und gekränkt, dass sie Frau Fuchs einfach stehen ließ und den Gang hinunter zum Hofausgang rollte.
» Louisa, bitte lass uns reden«, rief Frau Fuchs.
Aber Louisa reagierte nicht, sie wollte nur ganz schnell weg von hier. Sie verließ das Schulgebäude jetzt immer über den Hof, weil es auf diesem Weg eine Rampe gab, sodass Louisa keine Hilfe mehr brauchte.
Es war ein trüber Morgen und die Luft roch nach Schnee. Louisa rollte bis dicht an die Bordsteinkante, drückte die Bremshebel herunter und
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