Als schliefe sie
verließ den Raum. Mûsa dagegen blieb vor dem Foto stehen. Ihm war, als spreche es zu ihm. Versöhnt hatte er nun das Gefühl, Milia ziehen lassen zu können. Denn sie würde jetzt mit ihrem Mansûr nicht in Nazareth verschwinden, sondern durch das Foto stets anwesend sein, was seinen Trennungsschmerz lindern würde.
Mûsa drehte sich um. Milia aber war nicht da. Also trat er hinaus in den Garten. Von einem Weinkrampf geschüttelt, saß sie auf der Holzschaukel, die an dem mächtigen Feigenbaum angebracht war. Er ließ sie dort. Ging wieder ins Haus und setzte sich auf das Sofa vor dem Bild.
Von alldem hat sie Mansûr nichts verraten. Nicht, dass sie auf der Schaukel bittere Tränen geweint hat. Nicht, dass ihr die Tränen auf die Lippen liefen und in den Mund sickerten. Nicht, dass sie dabei eine wichtige Entdeckung machte. Die Entdeckung, dass Tränen anders schmecken, als man ihnen nachsagt. Dass sie nicht, wie es allgemein heißt, bitter sind, sondern salzig. Milia schluckte salzige Tränen. Ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Ein Geschmack, der aus einem ungeträumten Traum stammte. Bitterkeit, so stellte sie sich vor, sei grün. So grün wie das Augenpaar, das von der Bildfläche ihrer Träume verschwunden war.
Auf einem weißen Eisenbett, das einst an der Wand stand, an die Mûsa das Foto hängte, war Milia auf die Welt gekommen. Am Montag, dem 2. Juli 1923 , mittags um zwölf Uhr. Es war heiß und schwül an dem Tag. Die Beiruter Sonne bleiern. Wie Feuer brannte sie auf den Asphalt. Die Hebamme hatte sämtliche Fenster im Lîwân mit gelben Laken verhängt, die jeden Moment durch die gleißenden Strahlen in Flammen aufzugehen und das Zimmer in einen einzigen Glutball zu verwandeln drohten. Saada lag von Wehen gepeinigt auf dem Bett. Nadra Sallûm, klein und gedrungen, mit dunklem Teint, das Gesicht rund, wie immer eine brennende Zigarette im Mundwinkel, spottete über die Gebärende. Saada, quer auf dem Bett, wand sich in Schmerzen, wimmernd. Ihr lief der Schweiß in Strömen, das weiße Hemd war von nassen, im gleißenden Licht scheinbar gelblichen Flecken übersät.
»Beruhige dich, Verehrteste!«, sagte Nadra, die Arme gekreuzt und ungeduldig auf der Zigarette kauend. »Was soll dieses Gejammer? Schließlich ist das nicht deine erste Geburt!«
Saada entband zum sechsten Mal. Nur drei von den bereits Geborenen hatten überlebt. Salîm, der erste. Nikola, der vierte. Und Abdallah, der fünfte. Zwei Jungen waren gestorben: Der zweite, der namenlos blieb und immer nur als »der blaue Junge« bezeichnet wurde. Denn er kam von der Nabelschnur erwürgt und blau angelaufen auf die Welt. Gestorben war außerdem die Nummer drei. Sein Name war Nasîb. Eine Woche nach seiner Geburt an Gelbsucht erkrankt, ging er als »der gelbe Nasîb« in die Familiengeschichte ein.
Schwierigkeiten hatten Saada nur die ersten beiden Entbindungen bereitet. Danach ging alles problemlos. Fast wie von selbst plumpsten die Babys aus ihr heraus. Jedes Mal der gleiche Ablauf. Sobald die Wehen einsetzten, bat Nadra sie auf den Gebärstuhl. Und kurz darauf, umnebelt von dem heißen Wasserdampf, der aus dem bereitgestellten Topf aufstieg, spürte Saada, wie das Kind in ihrem Bauch abwärts rutschte. Ein Schwindel erfasste sie. Sie gab nach, glitt mit. Nadra fing das Kind auf, hielt es an den Beinen hoch und gab ihm einen Klaps auf den Po, damit es schrie. Dann folgte der obligatorische Blick auf den Unterleib. Sie sah den Penis und stieß einen ausgiebigen Freudentriller aus. Und sofort wusste Jûsuf, dass die Familie einen neuen männlichen Nachkommen hatte.
An jenem Julitag herrschten bereits am Morgen 34 °C. Saada, Gesicht und Hände gelb, lag, von Schmerzen gequält, brüllend im Bett, glaubte, einen Jungen zur Welt zu bringen, den sie Mûsa nennen wollte. Wie immer, wenn die Fruchtblase platzte und die Wehen einsetzten, machte sich Jûsuf eiligst auf den Weg zu Nadra in der Abu-Arbîd-Straße.
Die Hebamme hatte ihn stets freundlich empfangen und ihm jedes Mal am Gesicht angesehen, dass ein Junge unterwegs war. Wann immer er sie aufsuchte, vernebelten dichte Rauchwolken das Haus. Denn, wie man an dem Husten und dem Lärm im Hintergrund erkannte, war Herr Kamîl anwesend und widmete sich mit seinen Freunden Wasserpfeife rauchend dem Kartenspiel. Jûsuf trat ein, nahm den Gebärstuhl, der hinter der Haustür stand, und hastete heim, gefolgt von Nadra mit Zigarette im Mund.
An jenem brütend heißen Julitag aber
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