Als schliefe sie
hakte Milia nach. »Ich habe dich nicht verstanden.«
»Meinen Glückwunsch, liebe Schwester!«
An jenem Tag verspürte Milia den Drang, die Welt neu zu entdecken. Ihr war, als sei sie eben erst geboren worden. Oder als habe sie zwischen dem Augenblick, in dem sie ihm, weil er wie ein kleiner Junge wirkte, über die Wimpern strich, und dem Augenblick, in dem er wieder als Erwachsener mit den ersten grauen Haaren auf dem Kopf vor ihr stand, ihr gesamtes Leben wie im Traum durchlaufen. Milia legte die Hände auf die Augen, streckte dann die Arme vor, um die Worte, die Mûsas Mund entsprangen, aufzufangen.
»Nach der Hochzeit ziehst du gleich nach Nazareth«, bestimmte er.
»Wie du willst«, fügte sich Milia, den Kopf gesenkt, den Blick auf den schwarz geblümten Fliesenboden geheftet.
»Der Fotograf kommt morgen«, sagte er. »Du sollst immer bei uns sein. Deshalb werde ich dein Foto hier aufhängen.«
Einmal an der weißgetünchten Wand im Lîwân 4 angebracht, wurde das Foto nicht mehr entfernt. Auch Jahre später, als Mûsa das Haus von der Mutter erbte, ließ er es hängen, so als sei es mit der Wand verwachsen. Ein großformatiges Porträt im schwarzen Holzrahmen. Zu sehen war Milias Gesicht auf einem Schwanenhals thronend, von langem Haar gesäumt. Honigfarbene Mandelaugen, eine zierliche Nase, volle Lippen, markante Wangenknochen und schmale, zusammengewachsene Brauen. Aufgenommen von dem Fotografen Scharîf Fâkhûri aus der Stadt Sahle in der Bekaa-Ebene. Er hatte den Kopf in einen mit schwarzem Stoff bedeckten Holzkasten gesteckt und, um den schönsten Augenblick einzufangen, Milia volle zwei Stunden vor einer weißen Wand posieren lassen. Auf dem Foto schien Milia just der Wand entstiegen. Weiß die Haut, weich die Gesichtszüge, strahlend die Augen.
Das Foto habe etwas Seltsames an sich, fand Mûsa. Es war schwarz-weiß. Die Pupillen jedoch hoben sich ab. Sie hatten einen gewissen Grünstich.
Drei Tage vor der Hochzeit brachte Mûsa das Foto heim. Er schlug einen Nagel in die Wand, hängte es auf, trat drei Schritte zurück und rief Milia. Kurz darauf erschien sie.
»Schau!«, sagte er überwältigt.
»Danke, danke. Es ist sehr schön«, erwiderte sie.
»Schau, die Augen! Siehst du die Farbe? In dem Schwarz schimmert ein grünes Licht. Siehst du das?«
Milia war wie vom Donner gerührt. Ihr kamen die Tränen. Die Tränen verwischten das Bild bis zur Unkenntlichkeit. Angst stieg in ihr auf. Sie glaubte, ihr Schutzengel habe sie verlassen. Wie hatte der Fotograf das bewerkstelligt? Wie hatte er das Geheimnis ihrer Augen einfangen können? In Wirklichkeit waren ihre Augen nicht grün. Grün waren sie nur in ihren Träumen. Dort, wo sie in die Gestalt eines kleinen Mädchens mit dunklem Teint und kurzen schwarzen Locken schlüpfte. Wie war der Fotograf hinter ihr Geheimnis gekommen? Hatten ihre Augen sie verraten? Träumte sie deshalb nicht mehr? Hatte sie deshalb beim Einschlafen das Gefühl, in ein tiefes, dunkles Loch zu stürzen?
Seit sie in die Ehe eingewilligt hatte, fürchtete sich Milia vor dem Schlaf. Sie traute sich im Bett nicht mehr, die Augen zu schließen, sondern hielt sie weit geöffnet. Kaum machten sich die ersten Anzeichen von Müdigkeit kribbelnd in den Zehen bemerkbar, bäumte sie sich auf, um den Schlaf abzuschütteln. Der Schlaf aber ließ sich nicht vertreiben. Unerbittlich schlich er um sie herum, übermannte sie von hinten und zog sie hinab ins Finstere. Nacht für Nacht das gleiche Schauspiel. Sobald es dunkel wurde, begann sie am ganzen Körper zu zittern. Als hätte man ihr einen heftigen Hieb versetzt, schlotterten ihr als Erstes die Beine, sodass sie das Gefühl hatte, den Halt zu verlieren und jeden Moment zusammenzubrechen. Dann griff das Zittern auf die Schultern über. Milia versuchte sich zu beruhigen, stellte sich eine entspannende Geschichte vor, um einschlafen zu können. Die Geschichte aber entglitt ihr, und sofort brach tiefe Dunkelheit über sie herein.
Milia war die Höhle, in der sie ihre Träume aufbewahrte, abhanden gekommen. Die Ursache dafür erkannte sie erst, als das Geheimnis ihrer Augen von dem Foto enthüllt wurde.
Mûsa war irritiert. Er konnte sich nicht erklären, weshalb Milia so ablehnend auf das Foto reagierte.
»Komm, stell dich davor und schau es dir genau an«, forderte er sie auf. »Fast wie dein Spiegelbild!«
Milia folgte der Bitte. Wieder sah sie es. Aus dem Schwarz schimmerte es grünlich. Wortlos drehte sie sich um und
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