Als wäre es Liebe
mich erblickt hatte. Ich setzte mich auf den Stuhl ihr gegenüber.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. Früher war das meist ein Zeichen dafür, dass sie zu viel getrunken hatte. Aber ich sah keine leeren Flaschen, nicht mal Zigaretten.
»Kann ich was für dich tun?«, fragte ich.
Sie schüttelte wieder den Kopf.
»Ich habe Kopfschmerzen«, sagte sie, »das ist alles.«
»Soll ich dir ein Glas Wasser holen? Ein Aspirin?«
»Nein.«
So verbrachten wir eine ganze Weile, ich auf dem Stuhl, sie auf dem Sofa, und hörten gemeinsam die Matthäuspassion. Sie hatte die meiste Zeit ihre Augen geschlossen. Zwischenzeitlich hatte ich das Gefühl, sie sei eingeschlafen, weil sich ihr Brustkorb so sanft und regelmäßig hob und senkte. Vielleicht hatte sie Temperatur, weil sie zu schwitzen schien, ein paar ihrer dunkelblonden Haare, die sie sich in letzter Zeit hatte wachsen lassen, klebten an ihren Schläfen. Wie sie dalag, hatte sie etwas Friedvolles, etwas Sanftes. Ich hatte mir nie viel aus Bach gemacht. Bis zu diesem Nachmittag. Irgendwann aber war die CD zu Ende, und ich hätte sie gern noch mal gehört und noch mal.
Als sie aus der Kirche getreten waren und in den Kreuzgang kamen, erzählte Pfarrer Schmidt von dem Schweigegebot, das im Kloster herrschte. Der Mönch sollte sich auf sich selbst und Gott besinnen, in sich hineinhören, um sich und Gott zu finden. Friedrich hatte ihn daraufhin gefragt, ob das hieße, dass Gott im Menschen sei. Wie konnte es sein, dass er in jedem Menschen war? Und warum spürte man ihn nicht?
»Gott spürt man nicht wie Magenschmerzen oder Sodbrennen«, sagte Schmidt, »um ihn zu spüren, muss man sich ihm widmen.«
»Und wie ist das möglich, dass er in jedem Menschen ist?«
Sie blickten in den Kreuzganggarten, in dem kaum etwas wuchs. Der Pfarrer legte seinen Arm um Friedrich. »Das ist einfach zu erklären. Es war Gott, der die Welt geschaffen hat, das ist der Ursprung für alles. Das heißt doch auch, dass alles, was daraus entstanden ist, ein Teil dessen ist. Die Frage ist nur, ob sich ein Mensch dessen bewusst ist. Dieses Bewusstsein führt zur Demut. Und Demut ist die Voraussetzung dafür, Gott zu spüren.«
Im Kreuzgang stehend muss sie an einen Brief des Pfarrers denken, in dem er ihr schilderte, wie er als sechsjähriger Junge auf eine Flasche Katz Weinessig blickte. Es musste 1945 gewesen sein, und die Flasche stand in einem Küchenregal, um im Notfall die Gasmasken zu befeuchten. Er hockte sich vor das Regal und betrachtete das Etikett. Darauf war eine Katze zu sehen, die vor einer Flasche mit einem Etikett saß, auf dessen Etikett eine Katze zu sehen war, die vor einer Flasche mit einem Etikett saß. Und er fragte sich, wie viele Katzen das wohl waren. Seine Mutter sagte: Unendlich viele. Das konnte er sich als Sechsjähriger aber nicht vorstellen. Kein Mensch kann sich die Unendlichkeit vorstellen. Pfarrer Schmidt schrieb: Er habe lange über die Katzen auf dem Etikett nachgedacht, es habe ihn als Kind nicht in Ruhe gelassen, und irgendwann später habe er festgestellt, dass es nicht möglich sei, das Begrenzte könne nicht das Unendliche fassen. Und für seinen Glauben bedeutete das: Wir können Gott nicht fassen. Aber hatten die Menschen nicht gerade versucht, Gott fassbar zu machen, das Unendliche zu begrenzen? Sie haben ihn zum Korrektiv bestimmt, das ihnen ihre eigene Fehlbarkeit aufzeigt. Sie haben ihn zum Hüter der Menschlichkeit erkoren, ihn zum strengen Wächter der Moral gemacht und ihn damit auf sich selbst bezogen, selbstreflexiv sozusagen. Als würden sie sich ein autarkes Leben nicht zutrauen, weil sie sich selbst nicht trauen. Niemand soll sich ein Bildnis von ihm machen. Sonst würde man merken, dass der Mensch ihn sich selbst erschaffen hat. Dem Menschen aber fällt es schwer, sich kein Bildnis zu machen. Irgendwer hat ihm einen Bart angedichtet, manchmal hat er auch Ähnlichkeit mit dem Weihnachtsmann, und letztlich erhofft man sich von beiden, dass sie Wünsche erfüllen. So liest sich auch das Buch, das aufgeschlagen im Kapitelsaal ausliegt, wie eine Wunschliste. »Ich bitte dich, dass ein Wunder geschieht und meine Cousine nicht mehr unter ihrer Krankheit leiden muss.« – »Lieber Gott, bitte lass meinen Bruder mit dem Rauchen aufhören. Er vergiftet sich.« – »Bitte beschütze unseren Sohn!«
Ich erinnere mich, dass sie manchmal meinen Vater angerufen hat, meist spätabends, manchmal mitten in der Nacht,
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