Als wäre es Liebe
ist das nicht völlig willkürlich? Ein Mord entspricht fünfzehn Jahren. Totschlag fünf Jahren. Vergewaltigung zwei Jahren. Ist das nicht so, dass die Willensfreiheit eine Fiktion ist, damit die Gesellschaft Menschen bestrafen kann?
Es kann kein Zufall gewesen sein, dass die Festung an diesem Morgen im Nebel lag. Auch hier wieder Instandsetzungsarbeiten an den Außenmauern und Türmen. Als läge die Erinnerung im Zerfall.
Manchmal, in meinen Träumen, laufe ich vor jemandem weg, ich weiß nicht, vor wem, aber ich renne und werde dann in die Enge getrieben, ende in einer Sackgasse und habe keine Möglichkeit zur Flucht. Ich will schreien, als könnten alle Mauern einfallen, wenn ich nur laut genug schreie, aus dem tiefsten Inneren, aber mir versagt die Stimme. Wie damals auf der Matte des Therapeuten, der meine Hände umklammerte, dass es schmerzte, mir in die Augen starrte, mit seinem Gesicht immer näher kam, in meinen Bannkreis einbrach und rief, schrei! wehr dich! – und ich wollte schreien, ich wollte die Wut loswerden, ein für alle Mal, ich wollte mich aus seinem Griff befreien, mich aufrichten, ihm ins Gesicht schreien, ich sah, wie ich ihn von mir wegstieß, aber am Ende kam nichts als ein leises »Hör auf« und dann die Scham über so wenig Widerstandskraft.
»Wir haben nur ein paar Stunden. Du kannst nicht mit allen Tieren hier Freundschaft schließen«, sagte sie. Er stand immer noch vor der Voliere und hielt sich mit den Händen an den Maschen fest. Und sie sah, dass er seine Fingerkuppen bewegte, und ihr war nicht klar, ob er einen Vogel anlocken wollte oder ihm zum Abschied zuwinkte. Aber die Geste versetzte ihr einen Stich. So eine kleine, zärtliche Geste, die sie wieder zweifeln ließ, weil sie seinen Händen jeglichen Schrecken nahm. Ein unscheinbarer Gruß seiner Fingerkuppen zum Abschied hätte ihr gereicht, damals hatte sie sich nach einer solchen Geste gesehnt, einem Zwinkern, einem Lächeln, einer Berührung.
Sie schließt die Augen und hört das Zwitschern der Vögel. Sie glaubt sogar, Flügelschläge zu hören. Warum gibt es kein Organ, das die Seele reinigt, ein Pendant zur Leber? Der Mensch legt sich betrunken und unzurechnungsfähig ins Bett, er schläft acht Stunden, und morgens ist er gereinigt und sieht wieder klar. Die Seele ist unberechenbar. Die Seele denkt nicht, die Seele spürt, und nur deshalb ist sie auch so verletzlich. Der Verstand kann sich alles erklären oder erklären lassen, aber die Seele ist bekümmert, ohne dass sie weiß, weshalb. Man bezeichnet das dann als Laune, die kommt und geht. Der wir uns hingeben oder gegen die wir ankämpfen. Was wir aber nicht können: sie uns ausreden. Wir fragen uns: Was ist los mit mir? Welchen Grund habe ich, traurig zu sein? Und wir denken an das, was uns glücklich machen sollte. Aber was ist das? Welche Bilder hat sie vom Glück? Er suchte dieses Glück in der Natur. Er fragte nach den Farben der Blüten, nach den Wiesen, er wollte wissen, wie es sei, auf einer Düne zu stehen und aufs Meer zu blicken, wie sich der Schlick unter den Fußsohlen anfühle und was mit den Unterwassertieren geschehe, wenn sich das Meer zurückziehe. Er wollte detaillierte Beschreibungen, Empfindungen, manchmal kam es ihr vor, als sollte sie ihm ein Bild malen von der Welt da draußen. Sie wollte ihn nicht enttäuschen. Sie kaufte sich Naturführer: Steinbachs Landvögel, Schmetterlinge, Wildblumen, Bäume, Pilze. Sie wunderte sich über die vielen Sänger, die es unter den Vögeln gab, Sumpfrohrsänger, Teichrohrsänger, Drosselrohrsänger, Schilfrohrsänger, sie suchte nach Unterschieden im Gefieder, in den Grautönen und fragte sich, welche Menschen Spaß daran hatten, all diese winzigen Details zu katalogisieren und sich Namen für all die Vögel auszudenken. Manchmal blieb sie vor einem Baum stehen und suchte nach einem Abbild im Buch, blätterte vor und zurück, es war wie eines dieser Suchrätsel: Wie unterscheiden sich die Bilder voneinander? War das vor ihr eine Grau- oder eine Schwarz-Erle? Waren die Blätter oval bis rundlich, vorn leicht zugespitzt, oder doch eher eiförmig mit kurzer Spitze? Am Ende verkamen ihre Briefe an ihn zu einer reinen Aufzählung von Bäumen und Blumen, von Schmetterlingen und Vögeln.
Es gibt unzählige Kurse, meditative, buddhistische, die zu mehr Achtsamkeit verhelfen sollen. Bewusst eine Kartoffel schmecken, einen Schluck Wasser trinken, die Stille wahrnehmen, den Wind, die Blätter, den Tropfen Wasser,
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