Als wäre es Liebe
werden könnten, weil sie gewohnt waren, arm zu sein, und alles, was sie für ihre Bedürfnislosigkeit brauchten, sei ausreichend im Land: Reis, Frijoles, Mais, Zucker, Milch, Früchte. Sie wollten nur in Frieden und Bescheidenheit leben und nicht mit ansehen, wie Babys an geringfügigen Erkrankungen starben. Sie waren gegen den Kapitalismus, aber deswegen noch keine Kommunisten oder Marxisten. Wahrscheinlich war Nicaragua eine Flucht vor einer viel schwierigeren revolutionären Aufgabe in meinem eigenen Land.
Ich war fünfzehn, als meine Mutter in Nicaragua war. Mein Vater hatte mir damals nichts davon erzählt, ich erfuhr davon erst später, als meine Mutter wieder zurück war. Ich glaube, meinem Vater ging das zu weit. Er war für die Sache, solange keine Menschen verletzt wurden. Als die Kaufhäuser brannten, fand er das in Ordnung, weil es ein Aufstand war gegen den Konsumterror. Als sie aber anfingen zu morden, ging er auf Distanz. Er hatte keine Sympathien für die Rote Armee Fraktion und konnte es offenbar auch nicht verstehen, weshalb es meine Mutter in ein Kriegsgebiet zog. Vielleicht dachte er dabei auch an mich, schließlich war sie meine Mutter. Ich erinnere mich, dass sie mir am Telefon erzählte, wie sie zusammen mit den Erwachsenen für die Kinder eine Piñata gebastelt habe, eine Taube aus Karton, die sie mit Karamellbonbons gefüllt und an einen Ast gehängt hätten. Den Kindern seien dann die Augen verbunden, ein Stock in die Hand gedrückt worden, und dann hätten sie auf die Taube einschlagen müssen, bis es Karamellbonbons geregnet hätte. Sie sagte, sie habe noch nie so glückliche Kinder gesehen. Und das mitten im Krieg. Und ich dachte, wie seltsam, dass sie in ein Land reisen musste, in dem gekämpft wurde, um glückliche Kinder zu sehen.
Ich weiß nicht, wie lange ich schon in ihrem Bett liege und in ihrem Buch lese, aber es muss längst Mittag sein, ich habe Hunger, und Hunger lässt mich fast panisch werden. Ich weiß gar nicht, wie ich das als Kind so oft ausgehalten habe, meine Mutter vergaß häufig, mir Mittagessen zu machen. Ich nahm mir dann Kekse aus der Dose oder wartete, bis mein Vater abends kam. Seit ich für mich lebe, achte ich sehr darauf, regelmäßig zu essen, und mein Körper hat sich längst daran gewöhnt. Bleibt eine Mahlzeit mal aus, dann werde ich nervös, als könnte der Körper auf kein einziges Essen verzichten. Ich bin schlank, vielleicht auch dünn, aber nicht so dünn, dass ich Angst haben müsste. Es ist auch nicht so, dass ich mir das Essen an sich wichtig ist, dass ich es zelebriere und zu Hause täglich für mich koche, es geht eigentlich nur darum, dieses Hungergefühl nicht aufkommen zu lassen, und dagegen hilft schon ein Brot mit Wurst oder Käse. Ich lege das Buch beiseite und gehe in die Küche. Ich hole die Stachelbeermarmelade aus dem Kühlschrank und schneide mir eine Scheibe von dem harten Brot ab, das ich in einer Schublade finde. Meine Mutter scheint ohne Essen auszukommen. Ihr Kühlschrank ist erschreckend leer. Die Marmelade, eine Butter, die letzten Eier sind weg, ein paar Flaschen Bier und im Gemüsefach eine Paprika, ein paar Karotten und eine Zucchini. Vielleicht hat sie mich als Kind gar nicht vorsätzlich hungern lassen, vielleicht hatte sie sich einfach nicht vorstellen können, dass andere Menschen irgendwann im Laufe des Tages Hunger bekamen.
Auf dem Weg zurück ins Schlafzimmer frage ich mich, ob ich dem Ginkgo vorhin genug Wasser gegeben habe. Die Erde ist zwar noch feucht, aber das Wasser steht nicht mehr im Topf. Ich gehe in die Küche zurück, fülle das Glas ein weiteres Mal und gieße die Pflanze. Wer weiß, wie lange dieses Bäumchen im Trockenen stand. Vielleicht schon seit Wochen. Ich rede mir ein, dass es mehr Wasser braucht. Und fülle noch ein Glas. Erst jetzt sehe ich, dass sich auf dem Wohnzimmertisch eine Lake gebildet hat.
Er wollte nach Stuttgart in den Zoo. Er wollte bei den Tieren sein. Er hatte schon immer eine Nähe zu Tieren, aber in jener Septemberwoche, so kam es ihr vor, wurde sie fast obsessiv. Er sprach von den Tiersendungen, die er sich angeschaut hatte. Besonders ans Herz war ihm das Okapi gewachsen. Er hatte eine Sendung über ein Okapi gesehen. Der Pfarrer sagte, im Gefängnis gebe er nur noch Tierlaute von sich.
»Was für Laute?«, fragte sie.
Er sagte: »Seltsame Laute. Wie lautes Schnauben.« Im Auto war Friedrich sichtlich aufgeregt. So hatte sie ihn auf noch keiner Fahrt erlebt. Er saß auf
Weitere Kostenlose Bücher