Als wäre es Liebe
betrachtete die Schmetterlinge. »Sieh mal«, rief der Junge. Ein großer gelber Falter mit schwarzen Punkten auf den Flügeln hatte sich auf Friedrichs rechte Hand gesetzt. Sie fragte sich, ob man das Gewicht eines Schmetterlings mit geschlossenen Augen spüren konnte. Bald darauf kam der nächste und setzte sich neben den ersten. Und dann kam einer nach dem anderen. Sie hatte so etwas zuvor noch nie gesehen. Alle sahen diesem Schauspiel zu. Bald schon saßen auch Schmetterlinge auf seiner anderen Hand, sie setzten sich in Reihe seine Arme entlang. Ein kleiner mit brauen Flügeln schwirrte ihm vor dem Gesicht herum, nahm mehrere Anläufe, so schien es, bevor er sich auf seiner Nasenspitze niederließ. Und er, er stand da, ohne zu wanken, ohne die Lider zu öffnen, und sie war sich nicht mal sicher, ob er überhaupt atmete. Die Schmetterlinge schienen ihn mitnehmen zu wollen, und es hätte sie nicht gewundert, wenn sie alle gleichzeitig mit den Flügeln geschlagen und ihn davongetragen hätten. Ihr geht das Bild nicht mehr aus dem Kopf, wie er dastand mit all den Schmetterlingen. Der Junge zeigte auf den Fotoapparat, den die Mutter über der Schulter hängen hatte. Dann ging er auf Zehenspitzen ein paar Schritte zurück und suchte den richtigen Abstand. Er hielt sich die Kamera vors Gesicht, kniff ein Auge zu und zitterte etwas vor Aufregung. Er drückte den Auslöser. Es klackte, als die Blende sich öffnete. Ein Klacken, das in der Stille dieses Raumes für jeden gut hörbar war. Die Schmetterlinge schrecken auf und flatterten wild durcheinander in alle Richtungen durch den Raum. Der Junge erschrak und lief zu seiner Mutter, hielt sich an ihr fest, während sie ihm den Kopf streichelte. Friedrich öffnete die Augen und wusste nicht, was gerade geschehen war. Wahrscheinlich hatte er nicht mal das Klacken gehört, weil seine Ohren damals schon nicht die besten waren. Es war, als müsste er erst einmal zu sich kommen. Er sah sie an. Und dann verlor sich sein Blick, es gab keine Möglichkeit mehr, ihn zu halten. Seine Augen leerten sich, von einem Moment auf den anderen. Dann taumelte er, aber sie bemerkte es zu spät, weil sie versuchte, seinen Blick aufzufangen, und erst als Fritzmann und der Pfarrer aufsprangen, wurde ihr bewusst, dass es sein Abschied war. Noch ehe sie bei ihm waren, sackte er in sich zusammen. Sie versuchten, ihn zu halten, aber es gelang ihnen nicht. Er lag auf der Seite, gekrümmt, eine Hand ausgestreckt auf dem Boden, die andere zwischen seinen Beinen. Ihm stand der Mund offen, und der Speichel tropfte ihm über die Lippen. Seine Augen lagen verdreht in den Höhlen. Der Junge schrie auf und fing an zu weinen, und die Mutter versuchte, sein Gesicht an ihren Bauch zu drücken, um seinen Blick abzuwenden und sein Schluchzen zu ersticken. Fritzmann rannte aus dem Haus. Der Pfarrer drehte Friedrichs schweren Körper, sodass er auf dem Rücken lag. Er legte seinen Kopf auf Friedrichs Brust. Und sie sah nur zu. Erst als sie versuchte, sich ein letztes Bild von ihm zu machen, bemerkte sie, dass es nicht der Schmerz war, der sich in seinem Gesicht zeigte, sondern Erlösung. Er sah so friedlich aus, ein Hauch von Lächeln um den Mund. Er hatte immer in Freiheit sterben wollen. Und konnte es für ihn einen schöneren Ort geben als im Zoo? Es war ein Tod, wie von ihm erträumt. Und sie spürte, wie sich ihre innere Aufregung langsam legte. Ihr Herz wieder ruhiger schlug. Ich müsste ihm die Augen schließen, dachte sie und scheute sich gleichzeitig davor. Sie hatte so etwas noch nie gemacht. Ließen sich tote Lider einfach so schließen? Mit einer Handbewegung? Die Mutter war mit dem Jungen hinausgegangen. Sie hatte die Kamera in der Hand. Darin war das letzte Bild von ihm. Und sie fragte sich, ob er ihn in Gänze festgehalten hatte und die Schmetterlinge auf ihm saßen oder schon im Begriff waren, davonzuflattern. War im Moment des Klackens das Bild schon unauslöschlich gebannt? Sie überlegte kurz, hinterherzulaufen. Ihre Adresse zu notieren, damit sie ihr das Foto schicken konnten. Das letzte Foto von ihm. Aber sie blieb sitzen und fühlte Erleichterung. Sie musste ihm nur noch die Augen schließen. Aber dann rief der Pfarrer: »Er atmet.« Das war ein Schock. Wieso atmete er? Wollte er nicht sterben oder konnte er es nicht? Sie stand neben dem Pfarrer, sie schauten sich an, und sie glaubte, sie hatten beide den gleichen Gedanken. Er zuckte mit den Achseln. Was konnten sie tun? Sie sah sich um. Außer
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