Als wäre es Liebe
ihnen war niemand im Raum.
Der Pfarrer legte noch mal seinen Kopf auf Friedrichs Brust. Dann erhob er sich und sagte: »Er lebt, kein Zweifel.« Niemand sprach es aus. Und sie konnte auch nicht sicher sein, dass der Pfarrer diesen Gedanken hatte, aber die Art, wie er sie ansah, fragend einerseits, und nicht freudig erregt, wie man es erwarten konnte, wenn man feststellte, dass sich ein Mensch, der vor den eigenen Augen zu sterben drohte, doch am Leben hielt. Sie kniete sich neben Friedrichs Kopf und betrachtete ihn aus der Nähe. Einfach so sitzen zu bleiben und zu warten, das wäre unterlassene Hilfeleistung, aber sie war sich sicher, dass der Pfarrer später das Richtige zu Protokoll geben würde. Sie konnte ihn so ruhig anschauen, weil er keinen inneren Kampf ausfocht. Er selbst war so ruhig, als hätte er längst Abschied genommen. Keine Krämpfe, kein Zucken, kein Stöhnen. Sie schaute ihn an und hoffte, dass er den Moment nutzen würde, dass seine Seele, sein Herz, was auch immer ihn am Leben hielt, ein Einsehen haben würde. Es tat ihr leid, dass sie seine Hand nicht halten oder ihre Hand auf sein Gesicht legen konnte. Es war ihr einfach nicht möglich an jenem Tag. Aber sie war da, an seiner Seite. Dann musste sie daran denken, wie er es in der Situation gemacht hatte. Als die Frau vor ihm lag und er merkte, dass sie noch lebte. Hatte er damals gedacht, er täte ihr einen Gefallen? Oder ihm? Sie betrachtete seinen Hals, der im Verhältnis zu seinem Körper schmal wirkte. Sein Kehlkopf stach kaum hervor. Sie hätte ihm vielleicht die Nase und den Mund zuhalten können, das wäre das Leichteste gewesen, ein kurzes Aufbäumen seines Körpers, ein letzter Seufzer. Aber selbst wenn er noch Worte gefunden hätte und mit allerletzter Kraft diesen Wunsch formuliert hätte, sie hätte es nicht fertiggebracht. Und auch der Pfarrer nicht, da war sie sich sicher. Stattdessen saßen sie da und taten nichts. Vielleicht war es feige, einfach zu warten. Etwas anderes aber war ihr nicht möglich.
»Atmet er noch?«, fragte der Pfarrer.
Und sie sagte: »Ich glaube schon.« Und dann hörte sie, wie die Tür aufflog, sie sah, wie die Schmetterlinge aufschreckten und im Raum hin und her flatterten. Sie wurde beiseitegeschoben, sie sah, wie sich zwei Notärzte über ihn beugten. Ihn ansprachen. Sie setzten ihm eine Sauerstoffmaske auf. Dann hoben sie ihn auf eine Trage. Am liebsten hätte sie gesagt, sie sollten aufhören, sofort aufhören. Ihn nicht gegen seinen Willen am Leben halten. Vielleicht auch nicht gegen ihren Willen. Sie hätte versuchen können, sie an ihrer Arbeit zu hindern. Aber das waren nur Möglichkeiten in Gedanken. Sie stand zwei Schritte hinter ihnen und beobachtete, wie sie ihn stabilisierten. Dann packten sie die Trage, hoben ihn an und verschwanden aus dem Schmetterlingshaus. Sie sah sein Gesicht, er war zu sich gekommen, in seinem Blick war wieder Leben. Sie wusste nicht, ob er sie erkannt hatte. Sie brachten ihn in ein Krankenhaus und nach zwei Wochen zurück ins Gefängnis.
Es ist nicht so, dass es im Aquarium keine schönen Fische gäbe, sie sieht wunderbare Fische durchs Wasser schweben, mit ein, zwei leichten Flossenschlägen an der Scheibe vorbei: leuchtend gelbe, getigerte Fische, die blinken als hätten sie eine Metalliclegierung, schmale, elegante, aber dieser eine, der sich an der Scheibe festgesaugt hat und sie mit offenem Maul anstarrt, ist der hässlichste von allen. Seine Unterlippe steht hervor, sein Ausdruck ist dümmlich entsetzt, als empörte er sich über etwas. Er hat hervorstehende Augen, die aussehen wie nachträglich aufgesetzt. Es ist nicht schwer, ihn zwischen all den Fotos von Fischen auf dem Schild zu identifizieren. Pfauenaugenbuntbarsch. Lebensraum: Amazonien. Offenbar gehört er hier nicht her. »Der bis zu 50 cm lange und bis zu 1,5 kg schwere Barsch ist in seiner Heimat ein geschätzter Speisefisch. Er ernährt sich von Insekten, Würmern, Krebsen und kleinen Fischen. P. betreiben Brutpflege: Beide Eltern bewachen das Gelege 3 – 4 Tage bis zum Schlupf der Brut. Auch die Jungfische genießen noch eine gewisse Zeit lang den Schutz der Eltern.« Dass Fische den Schutz der Eltern genießen, scheint nicht üblich zu sein, wenn es besondere Erwähnung findet.
P. wurde geboren am 6. 7. 37 als 1. Kind des Schmieds. 1939 wurde der Vater zum Heer einberufen. Als er 1949 aus russischer Gefangenschaft heimkehrte, lebte die Mutter mit einem anderen Mann. Die Mutter war
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