Als wäre es Liebe
Tischkante zu schlagen. So fest, dass sie Blutergüsse davontrug. Meine Großmutter hielt sie nicht davon ab. »Man darf sich von Kindern nicht erpressen lassen«, sagte sie und erzählte mir, dass es wichtig sei, Kinder auch mal schreien zu lassen, weil es in der Regel um Kraftproben gehe, und da müsse eine Mutter hart bleiben. Das Kind müsse lernen, dass Schreien nichts nütze. Wenn es schreie, müsse man es in ein anderes Zimmer bringen, am besten in ein dunkles, die Tür zumachen und es allein lassen. Nach ein paar Malen sei das Problem gelöst. Solche Kraftproben zu bestehen, sei das Geheimnis einer guten Erziehung. Man müsse das Regiment über ein Kind führen. Viele Mütter aber machten genau das Falsche, sie nähmen das Kind auf den Arm, wenn es schrie, sie streichelten es und belohnten es am Ende für das Geschrei. So machten sie sich selbst zur Sklavin des Kindes. Die richtige Erziehung aber fange schon vom ersten Tag an, ein Baby müsse lernen, dass es nur zu feststehenden Zeiten gefüttert werde, und wenn es Schwierigkeiten mache, müsse es bis zur nächsten Mahlzeit hungern. So lerne es früh zu gehorchen. Essensentzug sei eine natürliche Strafe, die jedes Kind verstehe. Dann zeigte sie mir ein Buch und sagte, es gebe kein besseres, um Kinder großzuziehen. Es hieß: Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind .
Meine Mutter ließ sich aber nicht erpressen. Ich erinnere mich an eine Nacht, ich lag in meinem Bett, wachte auf, weil ich etwas geträumt hatte, ich schlug die Augen auf, und es war dunkel um mich herum. Manchmal fiel Licht durch den Türspalt in mein Zimmer, wenn im Flur noch Licht brannte und die Tür nur angelehnt war. In jener Nacht aber war es in der ganzen Wohnung dunkel, und ich war mir sicher, dass außer mir niemand da war. Ich fing an zu schreien. Ich schrie so laut ich konnte, ich schrie bis zur Erschöpfung, bis mir der Anlass meines Schreiens selbst nicht mehr gegenwärtig war, ich schrie um des Schreiens willen. Aber als nach Ewigkeiten immer noch kein Licht durch den Türspalt fiel, wusste ich, dass mein Vater nicht da sein konnte, er hätte mich niemals so lange schreien lassen. Ich stand auf, im Dunkeln ging ich zur Tür, dann durch den Flur, ich öffnete die Tür zum Zimmer, in dem meine Mutter schlief, ich tastete nach dem Lichtschalter, und dann sah ich meine Mutter. Sie lag im Bett, auf dem Bauch, und drückte sich das Kissen auf den Kopf. Ich weiß noch, dass ich unter ihre Decke kroch und überrascht war, dass sie nichts dagegen unternahm. Es war warm unter der Decke. Ich genoss es, an sie heranzurücken. Erst mit den Füßen, dann mit dem Rücken. Meine Mutter schlief immer nackt. In meiner Erinnerung war es das einzige Mal, dass ich ihren Körper berührte. Ich tastete ihn ab, berührte ihre Brüste und drückte mein Gesicht zwischen sie. Sie ließ alles mit sich geschehen. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein. Aber ich glaube, ich hatte meinen Arm um sie gelegt. Später, als ich älter war und meine ersten Erfahrungen machte, habe ich sie oft beneidet um ihre Sexualität, oder besser: um die Freiheit, die sie sich nahm, ihre Sexualität auszuleben. Wahrscheinlich ging es ihr mehr um die Freiheit als um die Sexualität. Ich hatte sie nie, diese Freiheit. Ich hatte immer Erwartungen.
Ich hatte die Sehnsucht danach gehabt, verführt zu werden. Der erste Kuss ging vom Mädchen aus; ich war zwölf, als sie mir nach der Schule, im Schutz einer Hauswand, die Lippen auf den Mund drückte. Im Nachhinein ist es mir weniger als Kuss in Erinnerung geblieben denn als Geste einer Liebkosung. Sie hätte mir auch über die Wange streichen können. Auch später hatte ich, wenn ich ehrlich bin, eher das Verlangen nach dieser Art von Liebkosung als nach Penetration. Noch heute sehne ich mich danach, mein Gesicht auf den Bauch einer Frau zu legen oder in ihren Achseln zu vergraben. Ich möchte einfach nur daliegen und gestreichelt werden und am liebsten in sie hineinkriechen. Ich will nicht frei sein neben der Frau, sondern ihr gehören, ganz und gar, mich neben ihr aufgeben. Das zumindest ist die Sehnsucht, aber bislang ist sie noch nicht erfüllt worden.
Bis kurz nach Lugano schafft sie es, am Steuer halbwegs wach zu bleiben, aber dann geht es nicht mehr. Die Müdigkeit überkommt sie. Sie hält auf einem Parkplatz und steigt aus. Es ist längst dunkel, kalt, die Luft eine andere, klarer. Sie hätte sich gewünscht, er hätte mit wachen Augen neben ihr gesessen. Vor allem das
Weitere Kostenlose Bücher