Als wäre es Liebe
letzte Stück war überwältigend schön, die Straße führte sie um einen Berg herum, talabwärts, und am Fuße sah man die Lichter einer Stadt, dann eine stille, dunkle Fläche, auf der nur vereinzelt ein paar schwache Lichter flirrten, und dahinter erhoben sich Berge, deren Gipfel im matten Mondlicht leuchteten. In großer Höhe ein paar Lichter, vielleicht Gehöfte. Je weiter abwärts sie kam, desto mehr verwandelte sich die dunkle Fläche in einen See, und dann fuhr sie dicht an seinen Ufern vorbei und sah das Wasser, träge und still, die Lichter der Stadt warfen ihren Glanz aufs Ufer, ein paar Boote ruhten auf dem See, alles fernab verschwand in der Dunkelheit. Sie hätte gern gehalten, hätte es eine Möglichkeit gegeben, aber hinter ihr blendeten die Scheinwerfer auf, Autos setzten zum Überholen an. Jetzt ist sie kurz vor Italien. Sie inhaliert die Luft, die so nach Süden duftet, selbst zu dieser Jahreszeit. Sie meint, die Brandung zu hören, weit entfernt. Aber es sind noch ein paar Hundert Kilometer bis zum Meer. Sie lehnt sich gegen das Auto und schließt die Augen. Sie weiß nicht, ob sie den Kampf gegen die Müdigkeit gewinnt. Vielleicht sollte sie irgendwo noch einen Kaffee trinken, sich bewegen, das Blut in Schwung bringen. Sie läuft den Parkplatz auf und ab. Er liegt an einem Waldrand. Im Licht der vorbeifahrenden Autos sieht sie ein paar Holztische und Bänke. Dahinter einen Pfad, der in den Wald führt.
Zum ersten Mal stellt sie sich vor, wie die Frau auf dem Nachhauseweg im Dunkeln durch den Wald ging. Als sie schnellere Schritte machte, machte auch er schnellere Schritte, und spätestens jetzt wusste sie, dass er es auf sie abgesehen hatte. Vielleicht fing sie an zu rennen. Nur noch durch den Wald, dann würde sie schon die Lichter ihres Dorfes sehen. Es war nicht weit, ein kleines Waldstück, aber bald schon war ihr klar, dass sie keine Möglichkeit hatte, ihm zu entkommen. Sie musste gespürt haben, wie er aufholte, und vielleicht ist sie dann auch stehen geblieben und hat gehofft und gebetet, dass doch nichts passiert. Dass er an ihr vorbeiging oder ihr die Handtasche raubte oder sie zumindest bei allem, was er machte, verschonte. Sie kennt das. Sie hat versucht, die Bilder zu verdrängen, an Gebirgsseen zu denken, an Walderdbeeren, an die Abgeschiedenheit, aber dann kommen sie doch, die Bilder, von ihm, wie er auf einmal hinter ihr herläuft, sie spürte ihn im Rücken, und sie zögerte, gleich loszurennen, aber dann übernahm doch die Panik die Kontrolle über den Körper, und sie fing an zu laufen, und spätestens da wusste sie, dass er es ist. Wie viele Eltern verbieten ihren Kindern, allein in den Wald zu gehen? Wie viele Kinder müssen jeden Tag auf ihrem Rad Umwege fahren, weil ihre Eltern ihnen noch an der Tür einbläuen, nicht durch den Wald zu fahren? Wie viele Eltern machen sich jeden Tag Sorgen und atmen erleichtert auf, wenn sie das Kind in die Straße biegen sehen? Dabei ist das Zuhause der gefährlichste Ort, der Ort der Gewalt.
Einem Löwen sieht man an, dass er gefährlich ist. Er hat Zähne und Krallen. Einem Bären sieht man an, dass er gefährlich ist. Er ist groß und hat Krallen. Einer Schlange sieht man an, dass sie gefährlich ist. Sie hat Giftzähne. Einem Vater nicht, und niemand würde es wahrhaben wollen. Und bestimmt nicht die Mutter.
Hin und wieder streift sie das Licht der Scheinwerfer, die für einen kurzen Moment die Bäume vor ihr erleuchten. Sie folgt dem Pfad einige Meter in den Wald. Aber dann wird ihr klar, dass dieser Pfad dazu benutzt wird, um einen Ort für die Notdurft zu finden. Es gibt sonst keine Toilette auf dem Parkplatz. Sie kehrt um, und wie sie das Auto stehen sieht, fällt ihr auf, dass sie nicht nur die Tür offen gelassen, sondern auch den Schlüssel hat stecken gelassen.
Versagt auch der Schnuller, dann, liebe Mutter, werde hart! Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen. Das Kind begreift unglaublich rasch, dass es nur zu schreien braucht, um eine mitleidige Seele herbeizurufen und Gegenstand solcher Fürsorge zu werden. Nach kurzer Zeit fordert es diese Beschäftigung mit ihm als ein Recht, gibt keine Ruhe mehr, bis es wieder getragen, gewiegt oder gefahren wird – und der kleine, aber unerbittliche Haustyrann ist fertig.
( Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind )
In der Nacht hatte sie einen Traum. Als sie aufwachte,
Weitere Kostenlose Bücher