Als wäre es Liebe
konnte sie kaum atmen vor Angst. Sie versuchte, in der Dunkelheit des Zimmers die Umrisse zu erkennen. Alles drehte sich. Die Tür, es gab sie nicht, das Zimmer hatte keine Tür und das Fenster ließ sich nur nach innen öffnen, es führte zum Flur. Sie sah ihren Vater hinter dem Fenster vorbeigehen, aber er machte keine Anstalten, stehen zu bleiben. Eine Gestalt kam dem Bett immer näher, es war Friedrich. Er näherte sich ihrem Bett, sie spürte, wie er neben dem Bett sitzen blieb und sie betrachtete. Sie spürte seinen Atem. Und dann seinen Kopf, wie er sich auf ihren Bauch legte.
In diesem Augenblick ist es wieder über mich gekommen. Ich nahm mein Messer aus der Tasche und stieß es mehrmals bis zum Heft in den Hals des Mädchens. Das Mädchen schrie kurz auf, ich rannte aus dem Zimmer, im Flur rannte ich gegen einen Menschen, kam aber zum Fenster, sprang hinaus und entkam auf dem Fahrrad.
Sie fragt sich, ob sie, hätte er seinen Kopf auf ihren Schoß gelegt, ihre Hand auf sein Gesicht gelegt hätte? Hätte sie seinen Kopf an sich gedrückt und ihn gestreichelt? Vielleicht ist es auch der Grund, weswegen der Traum so schwer wurde, weil sie zu früh aufgewacht ist. Ihr Unterbewusstsein quälte sich offenbar mit derselben Frage.
Sie muss durchhalten. Zwei Stunden noch, dann könnte sie das Haus erreicht haben, wenn alles gutgeht. Sie überquert die Grenze und hält am ersten Autogrill. Sie bestellt einen Espresso. Vom Stehtisch aus hat sie einen Blick auf die Autobahn. Sie sieht die Scheinwerfer der Autos, einige wenige rollen auf die Tankstelle zu. Die Fahrer steigen aus, manche strecken sich oder telefonieren, während der Tankwart den Tank füllt. Das letzte Mal als sie in Italien war, hat sie von ihm erzählt, zum ersten Mal. Das war im vergangenen Sommer in dem Haus ihrer Freundin in Ligurien. Es war ein altes Haus mit dicken Steinmauern. Wenn man in der Küche stand und nah an das Fenster herantrat, spürte man die Kühle des Steingemäuers. Man konnte die Hände auf das Fenstersims legen, das so tief, weil die Mauer so dick war. Und dann lagen die Hände auf kaltem Stein, und sie wunderte sich, wie archaisch letztlich so ein Haus gebaut war, Steine übereinandergeschichtet, zu einer unnatürlich dicken Wand aufgereiht. Das Haus hätte ihm gefallen, diese Freiheit hinter dem kleinen Küchenfenster, abschüssiges Land, unbestellt, überwuchert, dazwischen diese verkrusteten Ölbäume, der Blick aufs Meer. Es ging nicht in ihren Kopf, dass er dieses Land nie gesehen hatte.
Sie saßen auf einer Holzbank vor dem Haus. Sie streckte ihre Beine aus und lehnte sich an die Steinmauer.
»Ich verstehe es nicht«, sagte die Freundin, »was ist so liebenswert an einem Mörder?«
Sie kannte diese Frage, aber es war das erste Mal, dass nicht ihre innere Stimme sie stellte. Ob sie Mitleid hatte mit ihm? Das ist die naheliegende Frage. Der erste Impuls ist, sich zu wehren, weil Mitleid die Liebe offenbar entwürdigt, aber warum? Warum darf ein Mensch mit anderen leiden, die ein schweres Schicksal zu tragen haben, aber nicht mit dem Menschen, der ihm nahesteht? Die Liebe verträgt offenbar kein Mitleid. Aber sie hatte Mitleid, das würde sie nicht leugnen.
Sie schwieg. Sie bückte sich vor und tastete mit der Hand zum Glas, das auf dem Tisch stand. Sie griff zur Weinflasche, hob sie hoch und schwenkte sie.
»Ich hole eine neue«, sagte die Freundin, stand auf und ging ins Haus, ohne Licht zu machen. Sie hörte, wie die Freundin in der Küche eine Schranktür öffnete, dann eine Schublade, und danach war es still.
»Es tut mir leid«, sagte die Freundin, als sie sich wieder auf die Bank setzte, »aber es ist so schwer zu verstehen für mich. Ich meine, jemand, der vier Frauen ermordet hat, der macht einem doch Angst. Ich habe versucht, es mir vorzustellen. Aber es geht nicht. Ich kann mich nicht in der Nähe eines Mannes sehen, der so etwas getan hat.«
»Du kennst ihn nicht. Wie sollst du dir Nähe zu einem Menschen vorstellen, den du nicht kennst?«
»Wahrscheinlich hast du recht. Ich bin keine Psychologin. Ich habe mal davon gehört, dass es offenbar eine Menge von Frauen gibt, die Liebesbriefe an Mörder schreiben. Und als ich es gehört habe, dachte ich: Wie furchtbar. Mit denen stimmt doch etwas nicht.«
»Und jetzt denkst du, mit mir stimmt etwas nicht?«
Sie glaubte zu hören, wie die Freundin einatmete. Die Luft anhielt. Aber vielleicht wollte sie es auch nur hören. Weil ihre Stimme den Ton nicht
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