Als wäre es Liebe
Die Rollläden waren hochgezogen. Das Zimmer lag zur Straße hin, und die Sonne hellte den Raum auf. Sie sah auf dem Nachttisch, der rechts neben dem Bett stand, ein Buch liegen. Das Buch lag aufgeschlagen da, mit dem Rücken nach oben. »Manchmal stand meine Frau morgens auf und klopfte an die Tür, um unsere Tochter zu wecken, obwohl sie schon lange nicht mehr bei uns war«, sagte er, »unsere Tochter wäre heute selbst Großmutter, aber für uns ist sie immer eine junge Frau geblieben, wir haben keine andere Erinnerung an sie. Vielleicht war es Schicksal, aber ich weiß nicht, wofür dieses Schicksal gut gewesen sein soll. Sie hat niemandem etwas getan. Sie war ein so ruhiges und vernünftiges Mädchen. Am liebsten lag sie auf ihrem Bett und las. Sie half meiner Frau beim Kochen. Alle mochten sie, weil sie ein so gutes Herz hatte. Für Eltern ist nichts schlimmer, als wenn sie das eigene Kind überleben. Sie verlieren den Halt, es ist nichts mehr da, woran sie sich halten können. Am Ende ist das Einzige, was ihnen bleibt, zu tun, als wäre sie noch da. Die Erinnerung leben. Verstehen Sie?« Er zog die Tür wieder vor ihr zu. »Bitte gehen Sie jetzt. Vielleicht hilft es Ihnen zu begreifen, was uns genommen wurde. Nein, das klingt nach Schicksal. Nein, was er uns genommen hat.« Er machte ihr ein Zeichen, dass sie wieder hinuntergehen sollte. Er folgte ihr. Die ganze Zeit über sagte sie nichts. Sondern sah sich das Haus an, so viel sie davon zu sehen bekam. Vor der geöffneten Wohnzimmertür blieb sie stehen.
»Ist das Ihre Tochter?«, fragte sie und zeigte auf die vielen Bilderrahmen, die auf einem Regalbrett des Schranks standen. Er nickte. »Darf ich sie mal sehen?«, fragte sie. Er wich ihrem Blick aus, wusste offenbar nicht so recht, was er davon halten sollte. Er wollte etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders, ging an ihr vorbei ins Wohnzimmer, blieb vor dem Schrank stehen, nahm dann eines der Fotos und reichte es ihr. Ihr war selbst nicht klar, weshalb sie auf einmal den Wunsch verspürte, die junge Frau zu sehen. Vielleicht weil sie sehen wollte, wie sie aussah, die Frau, die er sich suchte, die ihm die Hände auf die Unterarme gelegt hatte. Sie war eine unscheinbare Frau. Ein rundes Gesicht, eine breite Nase, große Augen, keine Schönheit, Wangen, als hätte sie sich gerade Luft in den Mund gepresst. Dann fiel ihr Blick auf ihren Hals, sie trug eine dünne Kette, den Anhänger konnte sie nicht sehen, weil das Foto kurz unterhalb der Schultern abgeschnitten war. Sie sah noch den Kragen einer Bluse, dessen oberster Knopf geöffnet sein musste. Sie sah nur noch diesen Hals, schmal und blass. Ein Muttermal rechts neben dem Kehlkopf.
Dann entzog er ihr das Foto wieder, behielt es in der Hand und sagte: »So, jetzt gehen Sie bitte.« Die Tür zur Küche war immer noch geschlossen. Es war still im Haus.
»Er betet jede Nacht für sie«, sagte sie. Der Vater brauchte einen Moment, bis er begriff, von wem sie sprach.
»Sagen Sie ihm, wir brauchen seine Gebete nicht.« Er hielt das Foto immer noch in der Hand, aber er hielt es so, dass er ihr Gesicht nicht sah. Mit der anderen Hand zeigte er ihr die Tür und machte einen Schritt auf sie zu. Es war ein deutliches Zeichen. Sie ging, ohne sich umzudrehen. Im Vorbeigehen versuchte sie aus der Küche Geräusche zu vernehmen, aber es war still. Sie war schon die paar Stufen vor dem Haus hinabgestiegen. Sie drehte sich noch mal um. Sie wollte noch etwas sagen, aber dann nickte sie nur. Er stand in der Tür. Und als sie zum Auto gehen wollte, hörte sie ihn sagen: »Machen Sie keinen Fehler. Sie werden ihn ein Leben lang bereuen.« Er wartete, bis sie im Auto saß, dann fiel die Tür zu. Sie wendete und sah sie im Vorbeifahren wieder am Küchenfenster stehen. Sie konnte sich kaum aufs Fahren konzentrieren, ihr wurde ganz schwindelig vor Augen. Sie schaffte es ein paar Kilometer aus dem Ort heraus und hielt dann in einem Feldweg. Sie stellte den Motor ab. Sie stieß mit der Stirn gegen das Lenkrad.
Der Himmel lässt erahnen, dass es ein wunderschöner Tag wird. Ein paar Quellwolken weit weg, über dem Meer, die Sonne wird sich zeigen, vielleicht zieht auch eine Brise auf, die das Wasser kräuseln lässt und später dann ein paar Furchen durchs Meer zieht. Sie ist die Einzige, die ihn sieht. Er muss weiteratmen, durch die Nase, solange er den Mund geschlossen hält, kann ihm nichts geschehen. Sie muss an den Engel denken, der in seinen letzten Stunden an
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