Als wäre es Liebe
dieser Ausflug sollte. Und dann stand sie vor dem Haus und war drauf und dran umzukehren, ohne auszusteigen. Was wollte sie hier? Erlösung? Bestätigung? Abbitte leisten in seinem Namen? Sie sah das Gesicht einer alten Frau hinter dem Küchenfenster. Sie schaute auf ihr Auto. Sie sah, wie sie ihre Lippen bewegte, und kurz darauf stand ein Mann neben ihr. Beide blickten aus dem Fenster. Eine ganze Weile und wirkten dabei so einsam und verloren hinter ihrem Küchenfenster. Als sie die beiden sah, konnte sie nicht mehr umdrehen und wegfahren, als wäre sie nie hier gewesen. Sie stieg aus, stellte sich vor den Wagen und schaute die beiden eine Weile an. Dann machte sie die paar Schritte zum Haus hin, und als sie kurz vor der Haustür stand, sah sie, wie der Mann sich von der Frau löste. Sie hörte Schritte, aber es dauerte eine Weile, bis die Tür aufging, zaghaft, erst einen Spalt, und dann sah sie einen Mann vor ihr stehen, er war kleiner als sie, fast einen Kopf, sehr alt, dünn, fast schmächtig, er trug Sandalen und eine kurze Hose, sie sah auf blasse Beine, die von Krampfadern durchsetzt waren. Wenn man Menschen zum ersten Mal sieht, glaubt man, ihren Augen anzusehen, ob sie zugänglich sind oder abweisend. Aber in seinen Augen fand sie keinen Ausdruck, und das erschreckte sie. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte sich nichts überlegt.
»Ja«, sagte er, »was wollen Sie?« Und dann sah sie hinter ihm seine Frau im Flur stehen. Fast unscheinbar, ohne etwas zu sagen.
»Sind Sie die Eltern von …« Sie kam nicht dazu, den Namen auszusprechen.
»Sind Sie von der Zeitung?«, fragte er. Er drehte sich um zu seiner Frau, die sich am Türrahmen festhielt, eine kleine, alte Frau mit strähnigen grauen Haaren. »Mach dir keine Sorgen, geh in die Küche«, sagte er und sah sie wieder an, »meine Frau wühlt das alles auf, Sie glauben vielleicht, nach so vielen Jahren sei der Tod überwunden. Aber den Tod seines einzigen Kindes überwindet man nie.«
»Ich bin von keiner Zeitung«, sagte sie. »Wie soll ich sagen? Ich kenne den Mann, der Ihre Tochter getötet hat.«
»Was soll das?«, sagte er. »Jeder kennt ihn.«
»Ich meine«, sagte sie, »ich kenne ihn besser als andere.« Sie spürte sofort, dass es die Situation für ihn noch unerträglicher machte. Er hob die Schultern, drückte sein schmales Kreuz ein wenig durch und versuchte, seinen gebeugten Körper aufzurichten. Sie sah, wie sich seine Frau umdrehte und in der Küche verschwand.
»Sind Sie seine Seelsorgerin?«, fragte er, aber bevor sie antworten konnte, sagte er: »Wir sind Christen, wir hätten seine Hinrichtung nicht gewollt, Gott sagt, du sollst nicht töten, in unseren Augen gilt das auch für eine Gesellschaft, aber was wir bestimmt nicht wollen: dass dieser Mann jemals wieder in Freiheit lebt und Angst unter den Menschen verbreitet. Ich weiß nicht, was Sie von uns wollen, aber wenn er glaubt, wir hätten ihm vergeben oder wir könnten ihm verzeihen, dann sagen Sie ihm: Es vergeht kein Tag, an dem wir uns nicht vorstellen, was unsere Tochter gerade machte, wäre sie noch am Leben. Meine Frau backt jedes Jahr zu ihrem Geburtstag Kuchen und zündet achtzehn Kerzen an. Verstehen Sie?« Er schien kurz nachzudenken, drehte sich um und schaute in den Flur. Dann ging er zur Küchentür, zog sie zu und sagte zu ihr: »Kommen Sie.« Er ging vor ihr den Flur entlang, am Wohnzimmer vorbei. Sie konnte nur einen kurzen Blick hineinwerfen. Es fiel kaum Licht durch die großen Fenster, die zum Garten führten. Die Sonne stand auf der anderen Seite des Hauses. Eine Schrankwand, ein niedriger Tisch, ein Sofa, zwei Sessel. Und jede Menge Fotos, die auf einem Regalbrett standen. Er hatte schon die ersten Stufen einer Treppe erklommen, und sie beeilte sich, ihm hinterherzukommen. Die Stufen waren mit Teppich überzogen, alles schien gedämpft in dem Haus. Sie erreichten einen Flur im ersten Stock, der dunkel vor ihnen lag. Er hatte kein Fenster, und die drei Türen, die zu den Zimmern führten, waren geschlossen. Er blieb vor der ersten Tür stehen, legte die Hand auf die Klinke und zögerte einen Moment, bevor er sie dann fast ruckartig öffnete. Er ließ die Klinke nicht los, trat einen Schritt beiseite, sodass sie einen Blick ins Zimmer werfen konnte. Sie sah ein Bett, frisch gemacht. Einen Schreibtisch, aufgeräumt. An einer Seite ein paar Bücher, zu einem Stapel getürmt, einen Schrank. Einen Spiegel an der Wand. Davor standen zwei Paar Schuhe.
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