Als wäre es Liebe
hat. An beiden Seiten wird sie von Bergen umschlossen, die steil ins Wasser abfallen. Sie sieht, wie er hier steht, die Bucht überblickt. Er sieht die Menschen auf ihren Liegen, im Wasser, schwimmen, mit einem aufblasbaren Ball spielen, die Kinder im Sand spielend, die innere Unruhe, die ihn befällt. Er stützt sich mit einer Hand auf die Brüstung, bindet sich mit der anderen die Schuhe auf, er zieht die Socken aus, er krempelt seine Hose hoch, so weit es geht, bis kurz oberhalb der Knie, er nimmt die Schuhe in die eine Hand, seinen Koffer in die andere und geht zwischen den Liegen hindurch zum Meer. Er ist überrascht, wie heiß der Sand ist und wie fein er zwischen seinen Zehen hinwegrieselt. Er stellt seinen Koffer in den Sand, die Schuhe daneben, dann erwischt ihn eine Bö, die vom Meer landeinwärts zieht, die Sonnenschirme kurz in Wallung bringt und sein Haar aufrichtet. Er kann es kaum erwarten, dass seine Füße vom Meer umspült werden, er steht neben den Kindern, die versuchen, ihre Sandburg vor dem Einsturz zu retten, bis zu den Waden ist er eingetaucht. Er ist der Einzige, der angezogen ist, und sie schauen ihn an. Nicht die Kinder, aber die Erwachsenen von ihren Liegen, vor allem die Frauen. Er greift mit den Händen ins Wasser, formt seine Hände zu einer Schale, er schöpft das Meer in seine Hände und lässt es durch die Finger wieder entrinnen. Und dann schmeckt er es. Mit seinen Lippen berührt er seine Handflächen. Es ist das erste Mal, dass er Salz im Wasser schmeckt. Es kann ihn sogar tragen, er muss sich nur ins Wasser legen, die Arme ausbreiten und ruhig weiteratmen. Er darf nur nicht unruhig werden, wenn er das Gefühl hat, abzusinken, wenn das Wasser über sein Gesicht schwappt, seine Ohren die Rufe vom Strand nur noch gedämpft empfangen, einfach ruhig weiteratmen und vertrauen. Sie sieht ihn auf dem Meer treiben. Er ist bekleidet, nur seine Schuhe hat er ausgezogen, sie sieht seine nackten Zehen aus dem Wasser ragen. Er hat die Ärmel seines Hemdes hochkrempelt, seine großen Hände liegen mit den Handflächen nach oben auf dem Wasser. Es ist nicht der junge Friedrich, der dort treibt, sondern ein alter Mann. Er hat die Augen geöffnet, sein Körper dreht sich auf dem Meer, aber so langsam, dass er es kaum spürt. Weiß er, wie man dieses Spiel nennt? Toter Mann. Sie bekommt dieses Bild nicht mehr aus dem Kopf. Wie er da auf dem Wasser treibt und sie wünschte, die Strömung würde ihn erfassen und ihn hinwegziehen, hinaus aufs Meer. Sodass er sich kaum merklich vom Land entfernt, von ihr entfernt, die sie immer noch auf der Promenade steht und ihm hinterherblickt.
In der Woche nach dem Bootsausflug hat sie sich ins Auto gesetzt und ist in die Nähe von Hornberg gefahren. Sie wusste, dass sie dort gelebt hatte. Was diese Fahrt sollte, wusste sie nicht, aber sie hatte auf einmal das Gefühl, sie müsste mit ihnen reden. Ihren Namen hat er erst viel später erfahren, wahrscheinlich aus der Zeitung. Die Achtzehnjährige, die im März 1959 einem brutalen Verbrechen zum Opfer fiel. Sie hatte Eltern, jeder Mensch hat Eltern. Sie saßen im Gericht, erste Reihe. Sie wollten dem Mann in die Augen sehen, der ihnen das Leben zerstört hatte. Als christliche Menschen wurden sie in der Zeitung bezeichnet. Als friedliche Gemeindemitglieder. Solche Menschen blieben im Ort wohnen, sie zogen nicht weg. Davon ging sie zumindest aus. Die Bootsfahrt mit Friedrich war am Freitag gewesen, und am Dienstag saß sie im Auto in Richtung Hornberg, ohne ihm davon zu erzählen. Auch später hat sie ihm nie von ihrer Reise erzählt und ihrer Begegnung mit den Eltern. Es war nicht schwer, das Haus zu finden, in dem sie lebten. Sie hielt an der ersten Telefonzelle, schlug im Telefonbuch nach und fand die Adresse. Sie wohnten in einem Haus am Ortsrand. Es stand in einer losen Reihe mit anderen Häusern, ein paar Steinplatten führten durch den Vorgarten zur Haustür. Hinter dem Haus stieg der Hang an, eine grüne Wiese mit Margeriten. Es war still, das Fenster zur Küche stand gekippt, aber sie sah niemanden. Sie blieb eine Weile im Auto sitzen und war sich sicher, längst die Aufmerksamkeit der Nachbarn erregt zu haben. Ein fremdes Auto mit auswärtigem Kennzeichen. Eine Frau, die nicht aussteigt und vor dem Haus steht, von dem das Schicksal seiner Bewohner allen bekannt ist, auch wenn es lange her war. Sie war einem Impuls gefolgt, als sie sich ins Auto setzte, aber während der Fahrt wusste sie immer weniger, was
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