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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Evans
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Schreiner und hatte Frau und Kind nachkommen lassen. Aus allen Winkeln strömten sie herbei, verlockt von den drahtlosen Meldungen und Zeitungsannoncen, die in makellosem Queens English von freien Stellen in Krankenhäusern, bei der Bahn und in den Fabriken kündeten. Manche waren so wagemutig und sprangen, wenn sie sich unbeobachtet glaubten, bei Nacht auf ein Schiff – ein Mann aus dem Ort hatte sich im Jahr ’53 einen ganzen Tag lang von seiner Heimat verabschiedet, von Miss Enid in ihrem Laden, von Florence hinter der Bar gleich nebenan, vom Pastor, von seinen Cousins und Kusinen, den Eltern, weil er am nächsten Tag in Richtung Mutterland, gen England, aufbrechen würde, und kehrte dann am nächsten Tag als gescheiterter blinder Passagier zurück. Florence war es anfangs gar nicht in den Sinn gekommen, sich dem allgemeinen Exodus anzuschließen, bis ihr allmählich aufging, dass Annotto Bay jenen Tag ohne Bräutigam anno 1951 nie vergessen würde. Ihr einsamer Moment vor dem Altar war berühmt. Sie war die bemitleidenswerte Seele, der man beim nachbarschaftlichen Plausch einen Ananassaft und den besten Platz anbot, in der Hoffnung, dass sie endlich ihren ach so interessanten Schmerz herauslassen und dem Klatsch Nahrung geben würde. Sie konnte nicht einmal mehr in Frieden in die Kirche gehen. Und sie war es leid, hier zehn und dort sechs Shilling zusammenzukratzen. Wie wäre es mit einer Stelle? Mit einem schönen neuen Viertel? Nun, da Stony Hill und Fort George für sie verloren waren, wurde England zu einer attraktiven Alternative.
    Zu ihrer großen Beschämung musste sie sich beim Besuch der Arbeitsvermittlung anhören, dass sie das Achtzehn-bis-dreißig-Kriterium für eine Ausbildung als Krankenschwester schon nicht mehr erfüllte (der Beruf wäre ohnehin nichts für sie gewesen, da sie kein Blut sehen konnte), und daher bewarb sie sich um eine Stelle als Hilfskraft im Gesundheitsdienst und erhielt einen Kredit für die Überfahrt. Antoney bedrückte angesichts ihres Fortgangs nur eine Sorge, und die konnte er seiner Mutter gegenüber nicht äußern: Wenn er nicht mehr im Mandarinen-Haus wohnte, wie sollte Mr. Rogers ihn dann finden?
    In der Nacht des Tages, der jenem Tag gefolgt war, hatte sich ihm Mr. Rogers, so flüchtig wie ein Schatten, kurz gezeigt. Während bei Florence der Schlaf der Beschämten seines Amtes waltete, wurde Antoney durch ein Geräusch am Fenster wach. Er schaute hinaus, aber dort war nichts, und so ging er auf die Veranda, wo er das Geräusch erneut hörte, ein Zischen. Das Gras raschelte. Die fernen Sterne erröteten. Sein Vater trat hervor, struppig, den Daumen in der Hosentasche eingehängt, der Hut zum ersten und einzigen Male unbeblümt. Während der kurzen Unterredung, die dann folgte, blieb er in der Nähe der Sträucher, zwei bis drei Meter entfernt.
    Sie grüßten einander nicht. Mr. Rogers sagte bloß: »Sohn, ich werde zu meiner Mutter fahren.«
    Antoney schwieg. Er musste sich sehr konzentrieren, seinen Ärger aufrechtzuerhalten, wo er doch am allerliebsten vor lauter Erleichterung zu seinem Vater geeilt wäre und ihn umarmt hätte. Sein Körper beugte sich angespannt nach vorne und noch etwas weiter, als Mr. Rogers einen kleinen Schritt nach hinten machte. Sperlingsauge in Sperlingsauge musterten sie einander. Antoney kam die Heimfahrt im Rat-Attack-Bus in den Sinn, Katherines Abend, an dem er die Geschichte seiner lautlosen, katzenhaften Großmutter gehört hatte. Es kam ihm so wie damals vor, als ob er und Mr. Rogers die einzigen Menschen auf der Welt wären und alles Übrige bloß Erzählung war. Bevor sich Mr. Rogers dann abwandte und in der Dunkelheit verschwand, hob er noch seine rechte Hand, nahm den Hut ab und sprach das Folgende:
    »Ich komm zu dir zurück.«
    Ganz beiläufig, als wollte er nur vorher rasch eine Runde Domino spielen. Das war das Versprechen, das an Antoneys zwölftem, dreizehntem und fünfzehntem Weihnachten nachhallte, an seinem letzten Schultag, bei jeder Busfahrt, immer, wenn er in Kingston bei Woolworth vorbeikam. Im Vorfeld der Abreise nahm seine Befürchtung, dass dies Versprechen nun nicht mehr zu halten war, mit jedem Tag zu, und als sie schließlich Segel über den Atlantik setzten, spürte er, wie er entschwand, dünn und durchsichtig wurde, bis er unsichtbar war und die Suche nach ihm der Suche nach einer Glasscherbe auf dem Grund der See glich.
    Antoney trug nun den Nachnamen seiner Mutter, Matheus, auf deren Veranlassung.
    Ihr

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