Als würde ich fliegen
Cousin Gregory nahm sie in London auf, bis sie eine eigene Bleibe fanden. Er wohnte in einem düsteren, muffigen Zimmer im ersten Stock eines kohlegeschwärzten Hauses an der Ecke Portobello und Faraday Road. Nach drei Nächten auf dem Boden forderte er sein Bett zurück, auf dem er meist um vier Uhr morgens alkoholberauscht und noch in der Uniform der Londoner Verkehrsbetriebe niedersank. Antoney fand Gregorys unbeschwertes Junggesellendasein eindrucksvoll, aber Florence drängte auf eine andere Unterkunft, musste bei der Suche allerdings feststellen, dass sie entweder zu knapp bei Kasse oder zu sehr Karibik waren, was gleichbedeutend mit farbig, schwarz oder afrikanisch und in anderen Fällen wiederum mit irisch, Kind oder Hund sein konnte. Schließlich fanden sie, für dreiste zwei Pfund zehn die Woche, etwas auf der Bassett Road, eine der breiten, baumbestandenen Querstraßen westlich der Ladbroke Grove mit ihrer verblichenen edwardianischen Pracht. In jenen Tagen war es eine der vielen düsteren, müllbeladenen Straßen, in der Kinder halbnackt zwischen den Schuttbergen spielten und auch der eine oder andere Betrunkene auf dem Bürgersteig lag. Das Haus gehörte einer Holländerin, die allein die oberste Etage bewohnte. Sie war sehr strikt, was den Stromverbrauch betraf, und gestattete ihren Mietern ausschließlich Fünfundzwanzig-Watt-Birnen. Mieter mit Radio mussten extra zahlen, wie auch solche mit Kindern unter zehn. Der Vorgarten, ehemals ein Rasen, wucherte um einen orangefarbenen Bentley herum, den die Hausbesitzerin einst zu einem schicken Taxi hatte umwandeln wollen. Einige Türen weiter war ein verlassenes Haus zu einem Abladeplatz für zerschlagene Waschbecken, Matratzen, Kinderwagen, Koffer, ungeliebten Bodenbelag und tote Tiere geworden. Von ihm ging ein ranziger, von vielerlei Ungeziefer beförderter Geruch aus, der einem schon auf halber Strecke entgegenschlug. Hier musste Florence, die noch immer nicht fassen konnte, dass dies England war, jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit im Krankenhaus von Paddington leise fluchend vorbeigehen – bis sie schließlich tat, was alle taten: Sie ging links, scharf rechts und dann wieder rechts zur Bushaltestelle auf der Ladbroke Grove, musikalisch begleitet vom ständigen Dröhnen der Bohrer.
Sie hatte mit Antoney zwar ein Zimmer für sich, Waschbecken und Kochstätte aber mussten sie sich mit den anderen Bewohnern ihrer Etage teilen. Ein Stockwerk unter ihnen lebte Sheryl, sie war geschieden und stammte aus Oracabessa, unweit von Annotto Bay. Es gab nur eine Toilette. Es war wie in einem Geschäft oder auf einem Bahnhof, so viele Menschen kamen und gingen durch die Haustür; in den Wänden waren Stimmen und in der Decke Schritte. Jedes Mal, wenn die Haustür zuschlug (die Vermieterin hatte das Türeschlagen zwar untersagt, trotzdem wurde die Tür ständig zugeschlagen), rollte sich ein Fetzen der beigefarbenen Tapete über Antoneys Bett ein Stückchen weiter auf.
Antoney verbrachte in diesem ersten englischen Sommer viel Zeit mit Streifzügen durch das schöne neue Viertel, entlang der gefängnisgleichen schornsteinbestandenen Reihenhäuser, die ihm bei ihrer Ankunft das unheilvolle Gefühl tiefer Stollen vermittelt hatten. Er ging durch die Portobello Road, vorbei an launischen Pubs und Geschäften, die Talbot Road hinauf bis zum Powis Square, wo manchmal Musik aus einer alten Steinkirche kam, durch die nervösen Seitenstraßen in Richtung Westbourne Park, den er laut Sheryl meiden sollte, wegen »weißen Unruhemachern«. Er vermisste seine Heimat. Er vermisste die Busfahrer. Er vermisste die vielen Mango-Sorten. Manchmal ging er, mit seinem federnden Schritt, dem leichten rechtsseitigen Hüpfer, bis zur Oxford Street und kehrte erst lange, nachdem Florence von der Arbeit gekommen war, heim. Sie wollte, dass er sich am nahe gelegenen College bewarb, um Pharmazie zu studieren, aber er bekannte eines Abends, dass er in einem Theater am West End arbeiten wollte. Als Eisverkäufer oder so was in der Art. (All die bunten Lichter, das glitzernde Vordach des Shaftesbury! Das ist schon ein unglaubliches Gefühl, wenn man aus einer Bühne am Covent Garden kommt und auf eine Straße tritt, deren Steine unter all den Leuchten und Lampen violett schimmern …) »Jetzt hör mir mal zu«, sagte seine Mutter – sie hatte gerade einen Teller Reis mit Sauce und grüner Banane auf den filzbezogenen einstigen Casino-Tisch gestellt, nahm ihn nun aber weg – »hör mir gut zu.
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