Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Evans
Vom Netzwerk:
schaute wieder auf Katherine und fragte dann reichlich unvermittelt: »Praktizieren Sie hier eine Art religiösen Tanz?«
    Oscar lachte. »Religiös? Ich? Nein. Meiner bescheidenen Meinung nach ist Religion bloß eine perverse Form von Optimismus – und für so etwas haben wir hier keinen Bedarf. Wir haben diesen Ort für unser elendes Tun bloß okkupiert.« Als ihm aufging, dass er die Frage nicht wirklich beantwortet hatte, ergänzte er: »Wenn man dem Ganzen einen Namen geben müsste, könnte man es wohl am ehesten Modern Dance nennen. Das ist ausreichend vage – auch wenn Martha Graham den Begriff verständlicherweise hasst.«
    Der Besucher musterte Oscar eine Weile, mit hartem, direktem Blick. Oscar war ziemlich klein, er maß nur einen Meter siebzig, obwohl man niemals den Eindruck hatte, dass er zu anderen aufsah. Er lächelte ermutigend. Der Besucher, sein Mantel war noch zugeknöpft, sein großer, schäbiger Beutel noch geschultert, schien unsicher, ob er bleiben oder gehen sollte. Das Schweigen war unangenehm. Oscar, immer noch leicht von der Ästhetik des Jungen benommen, durchbrach es schließlich.
    »Stammen Sie aus Kingston?«
    »Nein, vom Land. Und Sie?«
    Oscar war nicht sicher, was genau er mit »Land« meinte, beließ es aber dabei und erwiderte, dass er aus einer kleinen Stadt nahe New Orleans stamme, obwohl er sich kaum noch daran erinnern könne, weil er seit Ewigkeiten nicht mehr dort gewesen sei. Währenddessen drangen die Stimmen der ersten Schüler, die sich dehnten, sich aufwärmten und miteinander plauderten, aus dem Studio. Die unnahbare Simone erschien und ging hinein, grüßte Oscar im Vorbeigehen und warf einen raschen Blick auf den Neuankömmling.
    »Sie waren noch nie hier, oder?«, sagte Oscar. »Ich vergesse nämlich niemals ein Gesicht.«
    Er lag mit seiner Vermutung richtig. »Ich habe seit Langem nicht getanzt«, sagte der junge Mann ein wenig zu stolz, und so misslang ihm der Versuch, seine Nervosität zu verbergen.
    »Und wo haben Sie früher getanzt, wenn ich so neugierig fragen darf?«
    Aber der andere verlor das Interesse an der Unterhaltung und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Fotografien zu, als ob sie, und nicht Oscar, ihn überzeugen könnten, seinen Mantel abzulegen. »Zu Hause hab ich Ballett getanzt«, sagte er geistesabwesend. »Aber es hat mir nicht wirklich Spaß gemacht – es war irgendwie zu … wie soll ich sagen, zu steif. Und dann hab ich …«
    Er sah über Oscars Kopf hinweg auf den scheußlichen Petruschka-Nijinsky. Es war der gleiche Blick, mit dem er auf den fliegenden Nijinsky geschaut hatte, dann wandte er sich dem wieder zu, neben Giselle und Scheherazade . Er wanderte von einem Bild zum anderen, Oscar war vergessen, bis er vor einer kleineren Fotografie stehen blieb, die direkt neben der Tür zum Studio hing. Nijinsky spitzentänzelte nach rechts, die Arme ausgestreckt, als wollte er den Raum betreten.
    »Wer ist das?«, fragte der Fremde schließlich.
    Oscar stellte sich neben ihn. Sie sahen das Foto gemeinsam an.
    »Das ist Vaslav«, sagte Oscar, und sie betrachteten weiterhin sein Bild.
    »Vaslav Nijinsky. Startänzer, Ballets Russes. Der größte Tänzer aller Zeiten.«
    Oscar hatte sich mit dem Begriff »Modern Dance« auch nie angefreundet. Er stimmte Graham darin zu, dass er nicht präzise war, aber er gebrauchte auch nicht die von ihr favorisierte Bezeichnung »Zeitgenössischer Tanz«, die es zwar besser, aber auch nicht wirklich traf. Wenn er sich festlegen musste, sagte Oscar meist »freier Tanz« und meinte damit einen lockeren, flüssigen, vom Lateinamerikanischen beeinflussten Bewegungsstil, der die Kreativität und Dynamik des Einzelnen förderte und dabei auch grundlegende Techniken und Elemente des klassischen Balletts mit einbezog. Um zu einem eigenständigen, wahrhaften Ausdruck zu gelangen, gepaart mit technischer Vollkommenheit, musste man, so glaubte Oscar, zunächst zu seiner inneren Freiheit finden. Sein Unterricht basierte auf der Vorstellung, dass Tanz eine Form der Selbsterkundung, ein emanzipatorischer Weg zu Selbstfindung und Selbstvertrauen war. Gewiss wollte er, dass seine Schüler als Tänzer reüssierten, aber er wollte auch, dass sie dies als Individuen taten. Schau dich an, mahnte er sie, schau in den Spiegel. Deine Zeit ist kurz. Jede Minute ist eine Zeit der Kreativität, eine Aufforderung, zu deiner eigenen Größe zu finden. Hab keine Angst davor, hab keine Furcht. Öffne dich. Begegne den ungeahnten

Weitere Kostenlose Bücher