Als würde ich fliegen
auch nicht auf freundliche.
Oscars Schüler lebten überwiegend in der unmittelbaren Nachbarschaft und der näheren Umgebung. Es fiel ihm schwer, einen angemessenen Satz für seinen Unterricht zu nehmen, er verdiente grad das Nötigste, denn sie kamen nicht nur zum Tanzen her. Sie kamen aus dem gleichen Grund, der ihn nach dem Tornado hergeleitet hatte. Sie brauchten einen Rückzugsort, eine Atempause vom Ruß. Sie stiegen die bröckeligen Stufen hinab in das Souterrain und kamen in eine reinere Sphäre. Deshalb hingen sie nach dem Unterricht noch auf den Sofas herum, als hätten sie kein Zuhause. Es machte auch nichts, dass die eine oder andere Maus durch das Tanzstudio flitzte oder es so verdammt kalt war. Die Maus war reiner als anderswo, und die Kälte war es wert. Viele Stunden saßen sie auf den Sofas und sprachen über Tanzrichtungen oder Shows, die sie gerne sehen wollten, über Musik, die sie begeisterte, oder sie lauschten Oscars Reiseberichten, seinem Abstecher in den lateinamerikanischen Tanz im Paris der Dreißigerjahre. Manche hielten ihn für den coolsten Weißen, dem sie jemals begegnet waren. Sie sprachen über Performance-Psychologie, choreografische Experimente und über »Hits«, über die Momente, in denen Körper und Musik eins wurden und sich gegenseitig verstärkten. Es waren laute Abende, bei denen viel gelacht und viel herumgehampelt wurde, weil ein Schüler eine Bewegung zeigen oder einen anderen zum Wettstreit fordern wollte.
Sie fielen im Großen und Ganzen in drei Kategorien. Es gab die treuen Anhänger, so wie Ekow – er wohnte zwei Straßen weiter und hatte ein Lächeln so breit wie der Horizont –, die sich Oscar mit Leib und Seele anschlossen, sich um ihn sorgten, um seine Ernährung, sein Schlafarrangement, und manchmal sogar den Eingangsbereich für ihn kehrten. Dann waren da solche, so wie Simone, die einmal in der Woche kamen und bereits eine ernst zu nehmende Tanzausbildung begonnen oder sogar Engagements hatten und denen Oscars Abende eine willkommene Ergänzung boten. Und dann waren da die Flüchtigen, die ein oder zwei Mal kamen und wieder verschwanden. Wieder auftauchten und aufs Neue verschwanden. Manche waren Oscar fremd.
An einem Oktobernachmittag, kurz nach fünf Uhr, eine halbe Stunde, bevor der Abendkurs beginnen sollte, kam Oscar mit einer Tasse Drei-Stück-Zucker-Kaffee aus der Küche. In der Eingangshalle stand ein großer junger Mann mit dem Rücken zu ihm und betrachtete die Fotos. Er hatte etwas an sich, was Oscar fesselte. Er hatte einen außerordentlich langen, starken Hals, breite Schultern, einen kräftigen Körperbau, aber er war auch von einer Leichtigkeit, die eine Illusion erzeugte: Wenn man nämlich nicht nach unten, nicht auf die Füße sah, hätte man glauben können, er schwebte, er trieb über Wasser. Oscar hielt ihn zunächst für einen professionellen Balletttänzer, aber dann war er sich doch nicht mehr sicher; seine Haltung war leicht gebeugt, sein Schuhwerk grob und schäbig (und wie arm ein Balletttänzer auch sein mag, die Füße sind ihm heilig). Der Fremde schaute mit besonderem Interesse auf den fliegenden Nijinsky.
Oscar, abschätzend, abwartend, trank einen Schluck Kaffee. Der Fremde trat vor ein Foto von Katherine Dunham, auf dem sie in einem Satinkleid, mit einer Feder im Haar, an einer Säule lehnte. Oscar wollte gerade ins Studio gehen, als sich der junge Mann endlich umwandte und ihn zur Kenntnis nahm. Nun schau einer an, dachte Oscar, was für ein bemerkenswertes Gesicht. Ein jungenhaftes Lächeln erschien auf dem Mund, als ob sich der Fremde an etwas erinnern würde, aber sogleich verschwand es wieder. Dieses Lächeln, dieses Vorübergleiten, dieser Moment von Kindlichkeit glich einen härteren, stetigeren Ausdruck aus, der in den Augen lag, in klaren, vorsichtigen, braunen, vogelartigen Augen unter dem Schatten frecher, samtiger Brauen. Der Mund war weich und zart, mehr wie der Mund einer Frau, mit einer Spur von Verletzlichkeit in seinen Winkeln. Es war ein Gesicht, von dem man anderen erzählen musste. Mit Kontur und Grazie, rostbrauner Haut, vornehmen Nijinsky-Wangenknochen. Oscar bemerkte, dass er sein Gegenüber anstarrte.
Der junge Mann sagte sehr bestimmt: »Das ist Katherine Dunham.«
»Allerdings«, erwiderte Oscar. »Großartiges Bild, oder?«
»Ich bin ihr mal begegnet.«
»Wirklich? Wo?«
»In Kingston. Und sie war genau wie hier.« Seine Stimme war tief und hatte einen melodischen, karibischen Einschlag. Er
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