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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Evans
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Möglichkeiten in dir, mit Mut, aber auch mit Demut.
    Jede Stunde begann noch vor den Aufwärm-Pliés, den Bodenübungen, Adagios und einem leichten Training an der Stange mit einer Viertelstunde Improvisation, bei der die Schüler die in ihnen aktuell vorhandenen Emotionen – Wut, Eifersucht, Angst, die kleine Freude über ein Erlebnis am Vortag – ausagieren und durch spontane Bewegungen vertreiben sollten. Sie rannten, sprangen und schlugen Räder quer durch das Studio, sie wirbelten und kollidierten. Die Übung sollte auch dabei helfen, Befangenheiten zu überwinden, worunter Oscar einst gelitten hatte, und die Schüler so weit zu bringen, dass sie alle gleichermaßen aufnahmebereit waren.
    Oscar beobachtete Antoney während seiner ersten Stunde genau. Sie tanzten zu einem Jazzstück. Er bewegte sich auf sehr ungewöhnliche Weise. Ausweichend, katzenartig, es war wie ein Zweikampf mit etwas Tieferem, Ausschweifenderem, das in diesem kräftigen, regsamen Oberkörper rang, den langen sehnigen Armen, die aus dem weißen Oberteil herauswuchsen (was hätte Oscar früher für solche Arme gegeben). Als Antoney zu tanzen begann, war das Schwebende, das Oscar in der Eingangshalle gesehen hatte, fast gänzlich fort; Antoney wirkte beinahe schwer. Er war offensichtlich nicht an offene Klassen gewöhnt. Er stand ganz weit hinten, im Schlupfwinkel der Neuankömmlinge, und auch während der Improvisation hatte er nur auf der Stelle herumgehampelt und einmal sogar die Arme verschränkt. Er sah Oscar jedoch fast während der gesamten Stunde lang an, mit einer grimmigen, suchenden Konzentration.
    »Versuch mal, deine Haltung zu lockern«, riet ihm Oscar bei einer seiner Runden, bei denen er Füße kontrollierte und Arme korrigierte. Manchmal verlor er währenddessen den Überblick und versank in einem intensiven Gespräch mit einem Schüler über die Spannung des inneren Schenkel- oder Lendenmuskels. Dann mussten die Übrigen die Stunde ohne Anweisungen fortsetzen und suchten meist bei Ekow Anleitung. Oscar, die Hand an Antoneys Kreuz gelegt, sagte sanft: »Nutze Haltung und Körperspannung als Basis für deine Bewegungen. Mach sie dir bewusst. Es geht nicht darum, sie bis zur Perfektion zu kontrollieren, aber mach sie dir zunutze.«
    Er mochte sich täuschen – gewöhnlich aber täuschte er sich bei diesen Dingen nicht –, doch dieser Junge hatte das gewisse Etwas. Das gewisse Etwas, das Zeug zu mehr, die Ausstrahlung. Wenn er seine Angst ablegen könnte (und es war eine mächtige Angst, die ihn wie der düstere Umhang eines Vampirs umgab), würde womöglich etwas Besonderes mit ihm geschehen. Ein schöner Tänzer könnte er sein, mit dem ganzen Charisma der Hässlichkeit.
    Aber dann, wie es mit den Flüchtigen nun einmal war, verschwand er.
    Florence und Antoney hatten im April 1958 in Southampton angelegt, nach fünftausend Meilen auf einem Dampfschiff, das in Italien gebaut worden war. Florence war während der gesamten Überfahrt seekrank gewesen, aber am Tag ihrer Ankunft zog sie ihr neues Kostüm an – handgenäht, hellgrau –, mit weißer Bluse, hellblauen Handschuhen und einem Hut mit passender blauer Feder. Antoney fand es bemerkenswert, dass seine Mutter stets und unter allen Umständen für glatt gebügelte Kleidung sorgte. Nicht eine Knitterfalte war an ihrem Rock, als sie die überfüllte Landungsbrücke hinuntergingen, wobei Florence den Kopf höher als gewöhnlich und die Handtasche über dem Unterarm trug, und auch nicht an seinem dunkelgrauen Anzug, den sie ebenfalls mit Tante Ivys Hilfe genäht hatte. Er war nun sechzehn und, seit sie ihn vermessen hatte, schon wieder ein Stück gewachsen, daher war die Hose schon ein wenig kurz und schlackerte ihm in der kühlen englischen Brise um die Knöchel.
    Sie hatten ihre besten und wärmsten Kleidungsstücke mitgenommen, Antoneys Schulbücher (man lernte nie aus), etwas Geschirr, den Rest dessen, was Florence ein Leben lang zusammengespart hatte, und eine Bibel. Alles Übrige hatten sie weggegeben oder weggeworfen. Im Gegensatz zu vielen anderen Passagieren hatten sie kein Rückfahrticket.
    Florence war seit Langem bewusst gewesen, welche Möglichkeiten sich Jamaikanern in England boten. Ihr Cousin Gregory hatte sich während des Kriegs bei der Britischen Armee gemeldet und war im Anschluss in England geblieben. Er arbeitete nun als Busfahrer in London. Und der Sohn von Mr. Chambers, dem Apotheker, dessen Haushalt sie führte, arbeitete in Birmingham als

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