Als würde ich fliegen
auch nichts.« Ekow und Antoney stritten sich, bis Simone dazwischenging. Die gesamte Gruppe schaute zu, wie Ricardo und The Wonder, den Daumen parat, voran in die Landschaft schritten, die rostfarben und hellgrün in der Mittagssonne lag. Irgendwo in der Ferne wand sich die dunkelgraue Straße nach rechts. Antoney zog die Luft durch die Zähne. Eine verpasste Show war fast so schlecht, wenn nicht gar schlechter, als eine schlechte. Sein Publikum würde warten. Die deutschen Tanzfans würden sich vergeblich den ganzen Samstag auf die abendliche Unterhaltung freuen. Antoney durchfuhr es heiß und kalt. Um drei Uhr waren die Jungs noch immer nicht zurück. Es wurde Zeit für einen Entspannungsschluck, und so öffnete er die drei viertel volle Flasche, die von den Vorräten noch übrig war, lehnte sich an den Bus und prostete Fansa lustlos zu. Fansa meinte, da sie ohnehin nichts unternehmen könnten, sollten sie das Beste aus der Situation machen und das Intermezzo genießen. »Sieh doch die Weite«, sagte er. »Sieh dir den Himmel an. Das erinnert mich ein bisschen an zu Hause, diese unverstellte Landschaft. In solchen Momenten denke ich immer, dass die Welt eins ist.«
Antoney war nicht in der Stimmung zu philosophieren. Außer vielleicht Simone schien niemand beunruhigt zu sein. Ekow und Benjamin schliefen. Rosina fotografierte Füße. Carla und Bluey hatten aus Oscars Decke eine Picknickunterlage gemacht und aßen zwischen Löwenzahnblüten Äpfel, wie Adam und Eva. Das machte ihn rasend. Er sollte dort bei ihr sitzen, nicht dieser Kerl. Beim Anblick dieser vertrauten beiden kam ihm der Gedanke, dass es mit ihm und Carla womöglich dem Ende entgegenging, dass sie womöglich aufgehört hatte, ihn zu lieben, ein, wenn er es so besah, unangenehmer, einsamer Gedanke. Sie machte ihn zum Außenseiter, sein eigenes Mädchen. Um sich abzulenken, versuchte er, ein Auto anzuhalten – aber es kam nur hin und wieder eins – und keins blieb für ihn stehen. Mittlerweile war es dahin gekommen, dass er an einem Ort nur noch verweilen konnte, wenn er trank. Seine Gedanken waren klarer, lauter, seine Wahrnehmung überdeutlich. Er hatte Angst. Der Wind tollte wie tieffliegende Engel über das Land. Eine verlassene Hütte in der Ferne wurde zu einem gedrungenen Mann, der ihn lockte. Alkohol, davon war Antoney fest überzeugt, war eine Form von Wahrheit. Er vermittelte den tiefen, den wahrhaftigen Eindruck, der uns im oberflächlichen Einerlei des Lebens verstellt blieb. Das wahre Bild. Das Licht wurde anders, Simone stieg im Blau des späten Nachmittags aus dem Bus, sie streckte sich, ihr Cordrock wanderte die Beine hinauf, wie gewöhnlich schimmerten die Lippen. Antoney sah sie so, wie er sie in der Kirche gesehen hatte, als sie »Bird« erschaffen hatten, als sie für ihn geglüht, für ihn in ihrem rosa-rosa Kleid geschillert, sich in seinen Händen materialisiert hatte. Die Luft gab ihre Wärme ab. Schmutzige Wolken sammelten sich. Leicht hungrig ging Antoney zu Simone, aber er wusste nicht, was er sagen sollte. Er schlug vor, gemeinsam nach den beiden anderen zu suchen, denn er könne es nicht ertragen, noch länger zu warten.
»Mein lieber Antoney«, sagte sie, »willst du eigentlich weitertrinken, bis wir wieder in Dover sind? Du kannst doch nicht mal mehr geradeaus schauen. Wir sollten warten.«
»Nein«, sagte er. »Na komm schon, ich will mit dir reden.«
»Und warum geht das nicht hier?«
»Weil es privat ist … Ich hab da eine Idee.«
»Was für eine Idee?« Ekow erschien hinter Simone, kühl und arglistig schaute er aus dem Bus.
»Mit dir hab ich nicht geredet.«
»Du tust es jetzt.«
»Simone, ich weiß echt nicht, was du in dem Typen siehst. Ist der jetzt dein Aufpasser?«
Die anderen schauten hinüber zum Bus. Der Himmel verdüsterte sich, ein leichter Regen fiel, und die Aussicht, bei schlechtem Wetter über Nacht dort festzustecken, sorgte für Nervosität. Sie hatten nur noch wenig zu essen (die Notration war nicht als solche behandelt worden – Fansa und Ricardo hatten während der Fahrt den beliebten Erdnuss-in-die-Luft-werfen-und-mit-dem-Mund-auffangen-Trick geübt). Auch das Wasser wurde knapp, und Rosina sorgte sich um Ricardo.
Ekow blickte prüfend zum Himmel. »Zeit, die Zelte aufzubauen«, sagte er.
Antoney rief nach Simone, doch sie folgte Ekow, der hinten zum Bus ging. Carla sah, die Decke um die Schultern gewickelt, aus einiger Entfernung argwöhnisch zu, ihre große, schlanke Gestalt
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