Als würde ich fliegen
stand schützend vor der Dämmerung. In all seiner Not und wachsenden Angst hätte Antoney so gerne in ihren Armen gelegen, aber er wusste nicht, wie er sich Carla nähern sollte. Er konnte nicht sagen, ob ihr Ausdruck liebevoll oder grausam war. Er hatte das Gefühl, dass er fortgespült wurde, dass er den Boden unter den Füßen verlor, dass alles um ihn herum teuflisch und finster wurde. Er war noch nie so elend, so verzweifelt gewesen. Er konnte mit niemandem sprechen, konnte sich selbst nicht ertragen. Das Klappern der Zeltstangen beunruhigte ihn. Er zog sein Cape an, aber auch damit wurde es nicht besser. Die anderen kauerten sich in die Zelte, schützten sich dort mit Schlafsäcken und Decken vor dem Regen, aßen Fischkonserven und mürbe Kekse. Er konnte sich nicht zu ihnen gesellen. Sie alle verhöhnten ihn, auch Fansa, die Augen leuchteten hasserfüllt, und so setzte er sich mit dem letzten Rest Alkohol alleine in den Bus. Als er ruhelos im Gang auf und ab ging, musste er wieder an das wartende Theater in Hamburg denken, ein schöner Gedanke – denn das Publikum war gekommen, um ihn fliegen zu sehen.
In einem Augenblick wahnwitziger Hoffnung drehte er mehrere Male den Zündschlüssel. Als nichts geschah, fing Antoney an, wie verrückt zu hupen, so waren die Minuten, die vorüberzogen, schon viel erträglicher. Bald darauf kam Ekow aus dem Zelt, riss die Bustür auf, schimpfte und fluchte und packte Antoney fest am Arm. Antoney konnte sich nicht länger beherrschen, vom Fahrersitz aus schlug er nach Ekow und schleuderte ihn zu Boden. Dann prügelte er auf ihn ein, wo immer er ihn zu fassen bekam, ins Gesicht, die Brust, er trat ihn. Doch Antoney war kein Kämpfer. Schon in der Schule war er Rangeleien immer aus dem Weg gegangen, und wenn er zu einer Rauferei gezwungen wurde, hatte er nie gesiegt. Er verfing sich in seinem Cape. Ekow überwältigte ihn, doch er revanchierte sich nicht mit den Fäusten, sondern den Handflächen; er schlug Antoney auf den Kopf und sagte dabei, dass er verschwinden würde, dass Antoney wahnsinnig und ein einziges Ärgernis sei. Carla und Simone waren aus den Zelten gekommen. Antoney hörte, dass Carla irgendwo über ihm schrie: »Lass ihn in Ruhe – Ekow! Lass ihn los!« Sobald Antoney freikam, warf er einen atemlosen Blick um sich, dann rannte er ohne ein Wort davon, ungeachtet des Gewitters. Carla rief hinter ihm her.
Er ging zu dieser Hütte, der gedrungene Mann lockte. Der Weg schien sehr weit, Antoney hatte kein Gefühl, weder für die Zeit noch die Entfernung. Regendurchnässt und schlammverschmiert bog er schließlich von der Hauptstraße ab auf einen langen, schmalen Pfad, der dunkler als die Straße und zu beiden Seiten von Brennnesseln bestanden war. Das klaustrophische Entsetzen lockerte seinen Griff. Das Donnern in der Ferne klang gedämpft und unbedrohlich, als käme es aus einer anderen Welt. Weiter und weiter ging er den Pfad entlang, immer mehr kam Antoney in seiner Einsamkeit zur Ruhe. Als er sich endlich der Hütte näherte, die in der Tat gedrungen war – er konnte im Innern nicht aufrecht stehen –, hörte er in dem Regen noch einen anderen Klang, Wellen, die sich an einem Ufer brachen, und darin ein fernes Klopfen.
Vor seinem geistigen Auge änderte sich die Landschaft. Er sah das tiefblaue Meer, Kokospalmen so hoch wie der Mond, und ringsumher schimmerte alles gelblich. Selbst die Hütte war bei näherer Betrachtung farbiger, nicht länger nur grau, sondern sattbraun, die Luft warm und still. Neben der Hütte, nur wenige Schritte von ihm entfernt, lag die Quelle des Geräuschs. Eine kleine, kräftig gebaute Frau kauerte auf dem Boden und trieb mit einem Holzstück einen Nagel in eine Art Kinderhocker. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor. Sie summte vor sich hin, ein altes, trauriges Lied – und da fiel es ihm ein.
Mrs. Gates?, sagte er.
Sie hatte diese Melodie immer am Strand gesummt, wenn sie in ihrem Kleid im Wasser saß. Nach der Schule hatten die Kinder sie immer belauert, auch Antoney, und sich zugeflüstert, wie gruselig und großartig es doch sei, dass diese verrückte alte Mrs. Jennifer Gates ihren Mann umgebracht hatte. Sie sah genau wie früher aus, nur ihr Kleid war trocken.
Wie geht es Ihnen, Mrs. Gates?
Ach, antwortete sie, ohne aufzusehen, ich vertreib mir hier nur die Zeit.
Er fragte sie interessiert: Haben Sie sie schon gefunden?
Sie wusste genau, was er meinte. Die richtige Adresse, den Rückweg, den genauen Ort, an dem sie den
Weitere Kostenlose Bücher