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Also lieb ich ihn - Roman

Also lieb ich ihn - Roman

Titel: Also lieb ich ihn - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Curtis Sittenfeld
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wichtigste Lektion, die wir im Zusammenleben mit Dad gelernt haben? Was sich richten lässt, richtest du, alles andere wird die Zeit richten.«
    |290| Nach einer Pause fragt Allison: »Wo nimmst du nur diese Weisheit her?«
    »Ich bin nicht so ahnungslos, wie du immer denkst. Na ja, so genau weiß ich das auch nicht. Ich bin ebenfalls bei einer Therapeutin. Sie kennt alle meine Gründe, nach Chicago zu ziehen, und hat mir nicht abgeraten.«
    »Hannah, auch ich bin Jungs hinterhergerannt, wenn ich allein war. Alle tun das.«
    »Echt?«
    »Aber ja. Und ich finde es gut, dass du eine Therapie machst, ich wollte es dir selbst schon ein paarmal vorschlagen.« Allison hält kurz inne. »Sollen wir uns auf die Suche nach dem Goldtopf begeben?«
    »Ich weiß«, erwidert Hannah. »Ich muss ständig an
Somewhere over the Rainbow
denken.«
    Allison lächelt. Sie sagt: »Bei diesem Song muss ich immer weinen.«

|291| 9
Mai 2005
    Liebe Frau Dr. Lewin,
    ich wollte Ihnen schon längst schreiben, aber dann habe ich es immer wieder aufgeschoben, zum einen, weil ich so viel zu tun hatte, zum anderen – das klingt jetzt furchtbar albern, aber es ist nun mal die Wahrheit – hatte ich gehofft, Ihnen dann irgendwann erzählen zu können, dass ich mich verliebt habe. Kaum zu glauben, dass inzwischen fast zwei Jahre verstrichen sind, seit ich Boston verlassen habe, und so dachte ich heute Nachmittag (es ist Sonntag), jetzt ist es wirklich höchste Zeit, Ihnen zu schreiben, bevor Sie mich entweder ganz vergessen haben oder diese Kontaktaufnahme selbst mir sentimental und überflüssig erscheint.
    Zurzeit lebe ich in Albuquerque, New Mexico, und bin an einer Schule für autistische Kinder beschäftigt. Es ist zwar eine gemischte Schule, in meiner Klasse sind aber nur Jungen. (Sie wissen bestimmt, dass es unter Jungen einen höheren Anteil an Autisten gibt als unter Mädchen.) Meine Schüler sind im Alter zwischen zwölf und fünfzehn. Die meisten sind klein und wirken jünger, doch einer, Pedro, ist sogar größer als ich und vermutlich vierzig Pfund schwerer. Manchmal nennt er mich verstohlen beim Vornamen, als ob ich das nicht bemerken würde. Wenn wir beim Zeichnen nebeneinandersitzen – am liebsten malt er Gitarren –, sagt er immer: »Gefällt dir mein Bild, Hannah?«, und ich antworte: »Nenn mich nicht Hannah, Pedro, sondern Ms. Gavener.« Dann ist er ein paar Sekunden still, bis er schließlich sagt: »Nennen Sie mich nicht Pedro, Ms. Gavener, sondern Mr. Gutierrez.« |292| Pedro ist der kommunikativste. Die meisten anderen sprechen kaum und neigen zu Wutausbrüchen und sonstigen Anfällen. Ganz besonders ein Junge namens Jason, der sich die Taschen mit allem möglichen Zeug vollstopft – kaputte Füllerkappen, Bonbonpapierchen, Gummiringe, zwei oder drei Scheren und ein Striegel (aus grauem Plastik mit Metallborsten), um eine repräsentative, wenn auch nicht erschöpfende Auswahl zu nennen. Bei Jason kann es passieren, dass er in aller Ruhe zu Mittag isst, bis ihm vielleicht eine Traube auf den Boden fällt, und dann bekommt er einen Tobsuchtsanfall. Wenn ich gezielt Fragen stelle, um Antworten aus ihm herauszukitzeln, zieht er oft eine furchtbare Grimasse, als hätte ich ihn beleidigt, bekommt Schaum vor dem Mund und spuckt wild um sich – einmal hat er auf die Frage »Beginnt dein Name mit J?« so reagiert. Ein Junge namens Mickey ist hingegen der fröhlichste Mensch, dem ich je begegnet bin. Einmal die Stunde bringe ich ihn auf die Toilette. Erst kürzlich ist er von Windeln zu Pull-Ups übergegangen, und falls ich aus Versehen Pull-Ups mal als Windeln bezeichne, korrigiert er mich umgehend. Wenn er auf dem Klo hockt (selbst zum Pinkeln setzt er sich hin), sieht er sich so entspannt und genießerisch im Waschraum um wie ein Geschäftsmann, der sich endlich den lang ersehnten Aufenthalt auf den Bahamas gönnt und in einem Liegestuhl am Swimmingpool einen sagenhaften Cocktail zu sich nimmt. Mickey hat Locken und trägt abwechselnd rote und blaue Sweatshirts, ungeachtet der Jahreszeit. Als er letzte Woche wieder so dahockte, mit roten Hosen, die sich um seine Knöchel ballten, fiel ihm ein Regal aus Metall ins Auge, oder eher ein Bord, das unlängst für die Klopapierrollen angebracht wurde.
    Er zeigte darauf und fragte: »Ist das neu?«
    »Ja, Mickey«, sagte ich, »es scheint neu zu sein.«
    |293| Angesichts seines strahlenden Lächelns und seines bedächtigen, anerkennenden Kopfnickens hätte man meinen können, der

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