Also lieb ich ihn - Roman
alle öffnet, bedeutet es zwar, dass das Essen schneller kalt wird, aber das ist zu verschmerzen. Dafür werden sich die Gerüche im ganzen Zimmer entfalten und in Allisons Nase dringen. Vermutlich ging man im Restaurant von einer Familienbestellung aus, denn es wurden Essstäbchen und Plastikbesteck für drei Personen beigelegt; Teller gibt es allerdings nicht, und so zieht Hannah den einzigen Stuhl zum Schreibtisch heran – ihre Knie stoßen gegen die mittlere Schublade – und isst direkt aus den Behältern. Über dem Schreibtisch hängt ein Spiegel, in dem sie sich selbst beim Kauen zusehen kann, nicht unbedingt der attraktivste Anblick. Hinter Hannah liegt Allison auf einem der beiden Betten ausgestreckt und zappt sich durch die Kanäle, bis sie sich schließlich für eine Reality Dating Show entscheidet. Eine alarmierende Wahl – in Hannahs Fall wäre sie ganz alltäglich, doch bei Allison wirkt sie wie eine Kapitulation, womöglich sogar wie ein Akt der Verzweiflung. Wo ist denn der Wälzer über Kindererziehung abgeblieben? Unwillkürlich blickt Hannah alle paar Minuten im Spiegel nach ihrer Schwester. Als sich einmal ihre Blicke treffen, sieht Allison rasch weg.
|288| Hannah ist bereits pappsatt und kurz vor einem Schweißausbruch, als sie aufgibt. Sie hat eine Frühlingsrolle gegessen, zwei Löffel Suppe, je ein Zehntel der Schrimps- und der Auberginenvorspeise und die Hälfte der grünen Bohnen. Fast bereut sie dieses Essen als ekligen Fehler. Nachdem sie sich die Hände gewaschen hat – das Waschbecken ist nicht im Badezimmer, sondern direkt davor –, räumt sie alles säuberlich weg und schließt alle Behälter.
»Die bleiben heute Nacht aber nicht im Zimmer«, sagt Allison.
Das war auch gar nicht Hannahs Absicht, doch angesichts dieser Empörung ist die Versuchung groß, sich zu widersetzen. »Ich wollte sie dir eigentlich unters Kopfkissen stecken, falls du nachts Hunger kriegst«, antwortet Hannah. »Wenn du es aber anders möchtest, werf ich sie wohl einfach weg.«
»Ja, bitte«, sagt Allison mit schwacher Stimme.
Der Parkplatz ist noch nass vom Gewitter und zugleich von goldenen Sonnenstrahlen erhellt. Eine Brise weht, nach der gnadenlosen Hitze der vergangenen Tage ist die Luft richtig angenehm. Als Hannah draußen vor dem Empfang steht, denkt sie kurz daran, das übriggebliebene Essen der Frau hinter dem Tresen anzubieten, aber das könnte auch als Beleidigung aufgefasst werden. Jetzt hat sie die Tüten in eine grüne Metalltonne geworfen und dreht sich gerade um, als er plötzlich auftaucht: Ein riesiger Regenbogen, der größte, den sie je gesehen hat, formvollendet und zum Greifen nah. Während sie diesen buntverschwommenen Halbkreis betrachtet, erinnert sie sich an den Physikunterricht in der vierten Klasse, als von Roy G. Biv die Rede war. Hannah rennt ins Zimmer zurück. »Allison, komm mit raus. Das musst du sehen!«
Allison, die immer noch auf dem Bett liegt, dreht den |289| Kopf; sie sieht argwöhnisch drein, und plötzlich weiß Hannah gar nicht mehr genau, warum sie sich gezankt haben.
Immerhin steht Allison auf. Sie folgt Hannah nach draußen, dann bleiben sie nebeneinander auf dem Parkplatz stehen.
»Ist das nicht großartig?«, fragt Hannah. »So einen habe ich noch nie gesehen.«
»Es ist großartig.«
Nach minutenlangem Schweigen sagt Hannah: »Weißt du noch, wie wir als Kinder immer gesagt haben – wenn es regnet und zugleich die Sonne scheint, dann feiert der Teufel Hochzeit?«
Allison nickt.
»Was meinst du, wie weit der von uns weg ist?«
»Vielleicht achthundert Meter. Ist schwer einzuschätzen.« Sie betrachten die Erscheinung noch eine Weile, dann sagt Allison: »Ich gebe Sam keine Schuld. Es ist nur so eine unappetitliche Geschichte. So peinlich.«
»Das ist bald vergessen.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich bin mir ziemlich sicher. Sam ist ein feiner Mensch. Bestimmt ist er auch ein guter Lehrer. Und ihr beide seid vielleicht nicht perfekt, aber ihr seid trotzdem ein tolles Paar. Er würde eure Ehe nie und nimmer aufs Spiel setzen – dafür liebt er dich viel zu sehr. Genau deshalb mach ich ja diesen Umzug, damit ich auch so etwas finde.« Hannah sieht zu ihrer Schwester. Die Abendsonne erhellt Allisons Profil, sie runzelt die Stirn, presst die Lippen zusammen. »Ich will nicht rumschwätzen«, fährt Hannah fort, »aber ich habe den Eindruck, dass im Leben vieles unappetitlich und peinlich ist. Da muss man immer wieder durch. Ist das nicht die
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