Also lieb ich ihn - Roman
den Mund zuhält.
»Du musst jetzt ganz ruhig bleiben«, sagt Elliot. Er flüstert ihr direkt ins Ohr, noch nie hat sie erlebt, dass jemand so leise flüstert; es ist, als ob er die Worte in sie hinein
dächte
. »Da macht sich jemand an unseren Proviant heran. Du darfst nicht schreien. Hast du kapiert? Ich nehme die Hand jetzt weg, aber wenn du den kleinsten Laut von dir gibst, tu ich sie zurück.«
Obwohl er ihn mit keiner Silbe erwähnt, begreift Hannah – nachdem sie begriffen hat, dass Elliot gerade keinen Vergewaltigungsversuch unternimmt –, dass er den Bären meint. Zum Schluss ist der Bär doch noch aufgetaucht, sie hat es ja gewusst.
Sie nickt, und er nimmt die Hand weg. Draußen ist ein Kratzen zu hören, es klingt nach einem Kratzen an der Baumrinde, dazu ein argloses Schnaufen. Das Kratzen hört auf, dann geht es von Neuem los. Ob Sam und Allison ebenfalls aufgewacht sind? Elliot bleibt auf ihr liegen. Sie liegt seitlich in ihrem Schlafsack, während er aus seinem herausgekrochen ist; er stützt sich auf beide Arme, sein Brustkorb ist an ihre Schulter gepresst, sein Bauch an ihre Hüfte, seine Beine halten sie im Zangengriff. Verharrt er in dieser Position, weil er nicht das leiseste Geräusch riskieren will, nicht einmal ein Heruntergleiten? Oder will er sie beschützen, für den Fall, dass der Bär ihr Zelt ansteuert? Oder weil dieses Umschlingen sich für beide so gut und überraschend selbstverständlich anfühlt? Die Last seines Körpers ist ihr keineswegs unangenehm.
Elliots Atem riecht nach den Zwiebeln vom Abendessen, was Hannah vermutlich anekeln würde, wenn sie ihm auf einer Party gegenüberstünde. Doch jetzt ekelt es sie nicht. Sie fragt sich, ob sie sterben werden. Die Info-Tafel |162| vom Flughafen kommt ihr wieder in den Sinn:
Der Bär zeigt seine Wut, indem er knurrt und die Zähne fletscht; sein Nackenfell sträubt sich, während er die Ohren anlegt. Fühlt er sich bedroht, kann er zum Angriff übergehen.
Trotzdem ist sie beinah froh, dass der Bär aufgetaucht ist; das bedeutet, sie war alles andere als paranoid.
Dann schiebt sich der Bär zwischen den Mond und das dreieckige Zeltfenster, so dass sie ihn zwar nicht vollständig, aber unmissverständlich sieht – das dunkle, silbrig überhauchte Fell, die mächtigen Schultermuskeln. Es ist ein Grizzly; draußen vor dem Zelt befindet sich ein Grizzly. Er geht auf allen vieren (sie hatte ihn sich aufrecht stehend vorgestellt), keine drei Meter entfernt. Wie sollen sie
nicht
sterben, in so unmittelbarer Nähe eines Grizzlybären? Vielleicht ist das der Grund, warum Elliot in dieser Haltung ausharrt, nichts spielt mehr eine Rolle – er könnte ihr an die Brust grapschen oder ihr ins Auge spucken, ohne dass es je ans Licht käme. Ihr Herz schlägt wie wild. Eine Welle von Traurigkeit überschwemmt sie, sie spürt, wie ihr Gesicht sich verzerrt; sie beginnt zu weinen. Ein unterdrückter Schluchzer entfährt ihr, und Elliots Arme geben sogleich nach, so dass nun auch sein Gesicht an sie gepresst ist, seine Nase an ihr Kinn, seine Stirn gegen ihr Ohr. Er schüttelt den Kopf. Legt ihr die Arme um den Kopf, hält ihn fest und drückt ihn nach unten. Hannah haucht ihm den Namen
Allison
ins Gesicht. Wieder schüttelt er den Kopf. Wäre es ein anderer, einer, dessen Bruder nicht nebenan im Zelt liegt, würde sie ihm nicht trauen. Tief in ihrem Rucksack steckt irgendwo ein Schlüsselanhänger – wie schnell Schlüssel an Bedeutung verlieren, wenn man seine Heimatstadt verlassen hat –, und an diesem Anhänger befindet sich eine Pfeife, mit der sich der Bär unter Umständen vertreiben ließe. Einen Versuch wäre es wert, wenn sie nicht gerade |163| Elliots Ansatz vertrauen würde, absolute Ruhe zu bewahren.
Schließlich verzieht sich der Bär. Wie ein Mensch – das spürt sie – sieht er sich rasch noch einmal um, um sicherzugehen, dass er alles erledigt hat, was es zu erledigen gibt, bevor er das Feld räumt. Aber seine Aufmerksamkeit gilt bereits dem, was als Nächstes ansteht. Dann ist er tatsächlich weg. Weder sie noch Elliot rühren sich. Wie lange? Etwa sechs Minuten. Bis Sam die Stille durchbricht. Er schreit: »Verdammte Scheiße!«
»Alles in Ordnung, Hannah?«, ruft Allison. »Ihr seid beide wohlauf? Wir haben ihn bei eurem Zelt gesehen.«
»Alles okay«, ruft Hannah. »Elliot hat dafür gesorgt, dass ich Ruhe bewahre.«
»Ich würde dich ja gern in den Arm nehmen«, sagt Allison, »aber damit warte ich wohl bis morgen
Weitere Kostenlose Bücher