Also lieb ich ihn - Roman
dass ihr Vater dieses blaue Lederalbum in einem Geschäft erwirbt und sich dann auf dieses Sofa setzt, um die Fotos in Plastikhüllen zu schieben. Er hat sie weder beschriftet noch sortiert, selbst Dubletten, verwackelte Aufnahmen oder Bilder, auf denen die Reisegefährten die Augen schließen, hat er nicht ausgemustert. Auf einem sitzen Howard Donovan und Rich Inslow am Flughafen von Philadelphia im Wartebereich vor dem Abfluggate. Rich isst offenbar eine Art Frühstücks-Sandwich; einige Bilder aus dem Luftraum wurden während des Landeanflugs aufgenommen; eins zeigt Howard beim Fahren, während Rich auf dem Beifahrersitz eine Karte hält; ein Schnappschuss zeigt sie beim Ausladen ihrer Golftaschen auf dem Parkplatz der Anlage. Je länger er Hannah die Bilder zeigt, desto besser wird seine Laune, bis schließlich der einsame Gipfel erreicht ist: Fotos aus |218| einem Restaurant, das ihr Vater hartnäckig
orientalisch
nennt; dort haben sie am Vorabend ihrer Heimreise gegessen. Zwei Bilder von Rich, der seinen Arm um eine junge, hübsche dunkelhaarige Kellnerin in einem marineblauweißen Kimono gelegt hat, ein paar Mal wurde auch die Inneneinrichtung festgehalten (schwer bambuslastig – die Schuhe durfte man ausziehen und sich auf den Boden setzen, auch wenn er und seine Freunde von dieser Möglichkeit offenbar keinen Gebrauch gemacht haben), schließlich das Lieblingsbild ihres Vaters aus diesem Lieblingsort, eine Sushi-und-Sashimi-Platte, die Howard bestellt hat. Er weist sie eigens auf die glitschigen Rechtecke aus rosigem und bräunlichem Fisch hin, die sich über Reis stülpen, auf das winzige Häufchen aus feinen Ingwerscheiben. »Weißt du, was das ist?«, fragt er und tippt mit dem Finger auf ein blassgrünes Klümpchen.
»Wasabi?«
»Das Zeug ist tödlich. Japanischer Meerrettich. Da heulst du garantiert Rotz und Wasser.«
Sie ist so verstört, dass sie ihn kaum ansehen mag. Beim Umblättern erzählt er vom Nachtisch; wie er hieß, hat er vergessen, jedenfalls wurde er flammenlodernd serviert. Hannah ist völlig aufgewühlt. Das soll ihr Vater sein? Ein Mann, der sich für Sushi begeistert. Ein Mann, der im Restaurant Fotos macht. Ihr Vater ist
ein kleines Licht
. Selbst sein angenehmes Äußeres ist harmlos banal, stellt sie beim Betrachten der wenigen Bilder fest, die von ihm gemacht wurden, er sieht in etwa so gut aus wie ein männliches Model mittleren Alters in der Kaufhausbeilage des
Inquirers
am Sonntag. Hat sie sich also nur eingebildet, dass er ein Monster ist? Früher brachte sie mit ihm vor allem diese eine Lehre in Verbindung: Es gibt viele Möglichkeiten, die Grenze zu überschreiten, in den meisten Fällen wirst du es erst erkennen, wenn du die Grenze bereits |219| überschritten hast. Hat sie sich diese Lehre ausgedacht? Zumindest ist sie ihm auf halbem Wege entgegengekommen, hat das Spiel stets mitgespielt. Nicht nur als Kind, sondern auch als Jugendliche und sogar als Erwachsene – bis jetzt. Hannah begreift, dass Allison das Spiel nicht mitspielt, seit etlichen Jahren nicht, deswegen streitet sie sich auch nie mit ihrem Vater oder verweigert ihm über lange Zeit jede Form der Kommunikation. Wozu auch? Hannah war immer davon ausgegangen, dass Allison sich aus Angst gezwungen fühlte, ihrem Vater Liebe und Achtung zu bezeugen, aber keineswegs – Hannah ist die einzige, die seinem Zorn eine solche Macht eingeräumt hat, eine Macht, die in keinem Verhältnis zum Zorn an sich stand.
Nach zweiunddreißig Minuten trägt Hannah ihre Diätcola in die Küche, um die Flasche zu entsorgen (vor Jahren hatte Allison versucht, ihn zum Recyceln zu bewegen, natürlich ohne Erfolg). Hannah fragt sich, ob Sam ebenfalls erkannt hat, dass man Douglas Gavener besser nicht ernst nehmen sollte? Dr. Lewin auch, ungeachtet der Entfernung? Und alle anderen, mit Ausnahme von Hannah und – eine Zeitlang – ihrer Mutter, die neunzehn Jahre bei ihm blieb, so lange währte ihre Ehe.
Dass er keine richtige Bedrohung darstellt, heißt allerdings nicht, dass er kein Arschloch wäre. Er hat sich nun mal benommen wie ein Arschloch. Während sie noch in der Küche steht, überlegt sie, ins Wohnzimmer zurückzugehen und ihm die Frage an den Kopf zu werfen, warum er damals immer so wütend war. Seine Frau war liebevoll, seine Töchter folgsam. Nach außen hin führten sie ein Leben, das der gehobenen Mittelschicht voll und ganz angemessen war. Was hatte er darüber hinaus noch erwartet?
Doch als sie wieder bei ihm ist,
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